DER STANDARD
Freitag, 16. Mai 2003, Seite 4
Niederlande: "Jeder soll leiden"
Klaus Bachmann
Den Haag/Brüssel - Die Grausamkeiten, die die künftige niederländische Regierung ihren Bürgern auferlegt, treffen alle, doch der große Aufschrei ist zunächst ausgeblieben, nachdem sich am Mittwochabend Christdemokraten, Linksliberale und Rechtsliberale auf ein Koalitionsprogramm geeinigt haben. Als wichtigste Personalentscheidung gilt die Rückkehr des neoliberalen und euroskeptischen Rechtsliberalenchefs Gerrit Zalm auf den Posten des Finanzministers, den er bereits unter dem früheren sozialdemokratischen Premier Wim Kok innehatte.
Reallohnverzicht
Das Streichkonzert ist noch radikaler ausgefallen als zunächst vermutet. So soll die Erhöhung der Gehälter im öffentlichen Dienst und der Sozialleistungen vier Jahre lang einen Prozentpunkt unter der Inflationsrate bleiben. Die Regierung will darüber hinaus Druck auf die Sozialpartner ausüben, dass sie sich ebenfalls an dieses Ziel halten. Sie zaubert damit ein altes, aber erfolgreiches Rezept aus dem Hut, das bereits in den 80er-Jahren für eine drastische Reduzierung der Arbeitslosigkeit sorgte: Reallohnverzicht. Damit sollen nun 80.000 neue Stellen geschaffen werden. Die Arbeitslosenquote liegt zurzeit bei fünf Prozent. "Jeder soll leiden", verkündete der alte und neue Premierminister Jan Peter Balkenende ungerührt nach Abschluss der Verhandlungen. "Die Zeit der Kaufkraftgarantie ist vorbei." Familien müssen bis zu 400 Euro jährlich an Eigenrisiko zur Krankenversicherung beisteuern, Arzneirezepte werden nicht mehr voll erstattet, und ein Teil der Krankenversicherungsprämien steigt trotzdem. Reicht auch das nicht, um das Defizit im Gesundheitssystem zu decken, drohen Leistungsbeschränkungen. Von Kürzungen ausgenommen sind nur das Bildungswesen und die Justiz, die mehr Geld als bisher bekommen.
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