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Als Mittel moralischer Erziehung taugt Unterricht kaum

Pädagogen warnen vor zu hohen Erwartungen an eine Aufklärung über Auschwitz in den Schulen

Von Matthias Arning (Frankfurt a. M.)

Das Zauberwort heißt Erziehung und klingt in Deutschland im Zusammenhang mit Demokratie oft so: Erziehung nach Auschwitz. Oder so: Erziehung zur Mündigkeit. Kaum eine Konferenz über den Holocaust kommt ohne das Zauberwort aus, selten gibt es Ansprachen zu Jahrestagen, in der Politiker nicht den Unterricht beschwören und die Erziehung als korrektive Instanz gegen Intoleranz aufrufen. Doch der Unterricht, das gibt der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Matthias Proske zu bedenken, "wird überbewertet", kann Aufklärung in dem erwarteten Maße "gar nicht leisten" und taugt für sich genommen nicht für "eine Immunisierung gegen antidemokratische Tendenzen".

Das klingt nach Entzauberung, ist aber gar nicht so gemeint. Proske warnt nur davor, die Erwartung an die Schulen zu hoch zu schrauben. Denn spätestens nach der Pilotstudie, die Proske und seine Kollegen am Institut für Erziehungswissenschaften an der Universität Frankfurt am Main, gefördert durch das American Jewish Commitee, gemacht haben, sei doch klar: "Schule kann nicht läuternd eingreifen."

Was Unterricht für die Vermittlung des Themas Nationalsozialismus und Holocaust leisten kann, fragten sich die Frankfurter Forscher. Und: Gelingt es im Unterricht, den von Politikern und Pädagogen formulierten Ansprüchen "an einen angemessenen Umgang mit der nationalsozialistischen Geschichte gerecht zu werden?" Die Wissenschaftler beobachteten über drei Monate hinweg zwei Grundkurse Geschichte, zwölfte Klasse, an einem Gymnasium. Sie befassten sich mit dem Holocaust. Dabei habe sich gezeigt, berichtet Proske, dass es zwischen Schülern und Lehrern weitreichende Differenzen gebe, "Differenzen der Generationen", die sich durch unterschiedliche Bemessungen der Bedeutung des Themas ausdrückten. Doch selbst wenn Schüler ihren Lehrern "Sie und Ihr NS-Trauma" vorhielten, lasse sich daraus nicht auf grundsätzliche Ignoranz oder Verweigerung wie bei Erwachsenen schließen. Vielmehr ließen die Jugendlichen keinen Zweifel daran, sich mit der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik auseinander setzen zu wollen. Diesen Konsens zu akzeptieren, bedeute allerdings nicht, "auch die Erziehungsziele des pädagogischen Programms" zu teilen.

Den Pädagogen müsse bewusst sein, hebt Proske hervor, dass Schüler ihr Wissen nicht allein aus dem Unterricht, sondern auch aus ganz anderen Quellen beziehen. Etwa aus dem Fernsehen. Und aus den eigenen Familien. Dort beobachteten Sozialpsychologen jüngst überaus eigenwillige Entwicklungen: Die Enkel sortieren die Geschichte ihrer Großeltern neu, stellen deren eigenes Schicksal heraus und kommen nicht selten zu dem Schluss: "Opa war kein Nazi."

Welche dieser Quellen welchen Einfluss hat, will Wissenschaftler Proske nicht bemessen. Bei einer Tagung im Fritz-Bauer-Institut, bei der die Pädagogen ihre Pilotstudie vorstellen wollen, steht diese Frage vom kommenden Donnerstag an im Mittelpunkt. Eines allerdings ist für Proske
klar: Die Erwartungen an den Geschichtsunterricht, die von "einem effektiven Instrument der moralischen Erziehung" ausgehen, gelte es zu reduzieren. Ziel müsse vielmehr sein, Schüler "auf den Stand der Diskussion zu bringen - und ihnen klar zu machen, dass diese Gesellschaft Entgleisungen wie bei Walser zum Skandal macht".



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