DER STANDARD
Mittwoch, 21. Mai 2003, Seite 28
Scheinheilige Schuldebatte
Ginge es wirklich um Bildungsinhalte, gäbe es dafür genügend füllbaren Leerraum
Martina Salomon
Es ist anzunehmen, dass sich Bildungsministerin Gehrer im stillen Kämmerlein ganz schön ärgert: Wäre die Lehrverpflichtung der Pädagogen erhöht worden (und nicht die Unterrichtsstunden reduziert), hätte der Aufruhr an den Schulen nicht größer sein können - mit einem feinen
Unterschied: Eltern und Schüler wären nicht in einem Boot mit den Lehrern gesessen. Kommenden Montag wird also an den AHS noch einmal gestreikt. Das Ergebnis wird wohl gleich null sein: Die Verordnung ist unterschrieben, somit ab Herbst in Kraft. Und die Gewerkschaft hat von Gehrer die Zusicherung erhalten, dass kein Lehrer gekündigt wird (wiewohl junge Vertragslehrer um Wiederanstellung zittern müssen). Was jetzt? Die Öffentlichkeit aufmerksam machen, sagt die Standesvertretung. Ja, es stimmt: Natürlich ist die Reform ausschließlich eine Sparmaßnahme. Das pädagogische Mäntelchen, das ihr die Ministerin eilig umzuhängen versucht hat, ist äußerst durchsichtig. Zuerst werden jetzt also die Stunden gekappt, und erst dann dürfen sich Experten in einer "Zukunftskommission" die längst nötigen Bildungsstandards überlegen. Vielleicht kommt man dann im nächsten halben Jahr sogar drauf, dass die falschen Fächer gestrichen wurden. Wirklich ehrlich wird die Diskussion aber auch von der Lehrerseite nicht
geführt: Ginge es nämlich tatsächlich nur um wertvolle Unterrichtszeit, so gäbe es jede Menge Möglichkeiten, um Leerlauf im Schuljahr mit Bildungsinhalt zu füllen: Denn der halbe September geht mit der schleppenden Wiederaufnahme des Unterrichtsjahres drauf, dafür herrscht im Juni schon mehr oder weniger Ferienstimmung. Supplierstunden könnten ernsthafter gehalten und die schulautonomen Tage nicht als neue Ferien, sondern für pädagogische Konferenzen oder Projekte genutzt werden. Sind die Ferien eigentlich für alle Zeit unantastbar - oder könnte man über weniger Stress unterm Schuljahr im Gegenzug für weniger unterrichtsfreie Zeiten diskutieren? Offenbar nicht. AHS-Lehrergewerkschafter Helmut Jantschitsch, der dieses Tabu in einem STANDARD-Interview anrührte, wurde von seinen Kollegen prompt gestürzt.
Wobei es - nebenbei bemerkt - Probleme gibt, einen Nachfolger zu finden. Standesvertreter für Lehrer zu sein ist kein Honiglecken. Weil sich bei manchen Pädagogen mittlerweile eine Art paranoider Zustand eingestellt
hat: Die Politik wirft uns ständig Prügel zwischen die Füße, man unterstellt uns Teilzeitarbeit, und in Medien wird Lehrer-Bashing betrieben, lautet der selbstmitleidige Tenor. So demotiviert, wie die besonders Lauten wirken, ist der Berufsstand aber hoffentlich nicht. Wobei, ohne die Neidgenossenschaft zu alarmieren, angemerkt werden darf, dass Pädagogen beste Möglichkeiten haben, dem Job zumindest einige Zeit den Rücken zu kehren, wenn er unerträglich geworden ist: Von ihren Karenzierungsmöglichkeiten kann man anderswo nur träumen. Ein Blick in die Politik zeigt, dass dieser Freiraum genutzt wird - so sind etwa drei der vier weiblichen Regierungsmitglieder Pädagogen. Schließlich haben Lehrer nicht nur Zeitautonomie, sondern sind auch hoch qualifiziert - wie in der "Millionenshow" kürzlich eindrucksvoll unter Beweis gestellt wurde. Kommenden Montag wird, wie so oft, die AHS im Blickpunkt stehen. Das sollte sie aber auch längst in anderer Hinsicht. Denn unbemerkt von der Öffentlichkeit verlieren die allgemein bildenden Gymnasien an Terrain: In der Oberstufe wird diese Schulform immer häufiger "abgewählt": 1990 gab es noch ungefähr gleich viele BHS- wie AHS-Maturanten, mittlerweile schließen deutlich mehr Jugendliche eine BHS ab. Es ist daher kein Zufall, dass die (ansonsten eher farblose) Wiener Stadtschulratspräsidentin Susanne Brandsteidl eine Zentralmatura für Wien - also gleiche Prüfungsaufgaben und somit einen einheitlichen Standard - gefordert hat. Damit sollte die Qualitätsdebatte endlich eröffnet sein. Und die ist deutlich wichtiger als jene über die Stundenreduktion.
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