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17.05.2003 - Gastkommentare
Das Neue Lernen

VON MATTHIAS HORX
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Im privaten deutsch-englischen Kindergarten meines 5jährigen Sohnes im 18. Bezirk herrscht eine erstaunliche Atmosphäre, die mich immer wieder aufs Neue fasziniert. Ruhig, konzentriert und ohne Hektik lernen die Kinder Buchstaben erkennen, Rechnen, aber auch Dinge wie "Sprechen", "Balance", "Ausdruck". Im Mittelpunkt dieses Observatoriums des Lernens steht Miss S., eine resolute Engländerin mit leuchtenden Augen. Sie hat es geschafft, meinem etwas unsicheren Sohn innerhalb eines halben Jahres
a) Eis laufen b) das Alphabet und c) ein gehöriges Maß an Selbstbewusstsein beizubringen.

Wo stehen wir heute in der Bildungsdebatte? Wir streiten uns, ob man zwei Stunden Unterrichtszeit streichen darf. Wir machen uns Gedanken über die Wiedereinführung eines "Kanon der Bildung". Doch das eigentliche Problem liegt ganz woanders. Es liegt in der Tiefe unseres Menschenbildes. Unser in wilhelminischer bzw. Franz-Joseph-Zeit geborenes Bildungssystem stammt aus einer Kultur der Abhängigkeit und Disziplinierung. Die überwiegende pädagogische Praxis in unseren Schulen ist durch den Frontalunterricht geprägt, bei dem ein Lehrer vor eine Gruppe von Schülern tritt, die er bei Androhung von Strafe zum Schweigen auffordern muss. Bewertet werden in diesem System vor allem Abweichungen und Fehler. Gefördert wird nicht der Einzelne, sondern das System. Heraus kommen oft stumme Anpasser oder unsichere Angeber.

Wer jemals in einer englischen oder skandinavischen Schule war, weiß, dass es auch ganz anders geht. In den Schulen des Wissenszeitalters stehen die Schüler im Zentrum ihres Lernprozesses. Praktiziert werden kleine, selbstständige Gruppen, in denen es um Ausdruck, Darstellung, Selbst-Bewusstsein geht. In Finnland etwa sind Lehrer hochbezahlte Wandlungs-Spezialisten, Schulen Abenteuer-Laboratorien und 70 Prozent der Schüler haben eine passable Matura.


Wenn wir unser Bildungssystem reformieren wollen, brauchen wir zuallererst eine "Kultur der Anerkennung":

[*] Anerkannt wird, dass der Einzelne, das Individuum, kostbare, spezifische Fähigkeiten hat, die individuell zu erkennen und zu fördern sind.

[*] Anerkannt wird, dass es keine Meta-Wahrheit gibt, dass Lernen also immer auch ein Akt gemeinsamer Verständigung über ein Thema ist.

[*] Anerkannt wird, dass Schulen und Lehrer zugleich auch Lernende sind. "Learning by doing", bei dem Lehrer von Dompteuren zu Moderatoren werden.

Die Zukunft verlangt nicht Millio nen von Leuten, die bereit sind, monoton- mechanische Tätigkeiten auszuführen, sondern solche, die in der Lage sind, ihren Weg in einer neuartigen Umwelt zu finden." Dieses Zitat des Zukunftsforschers Alvin Toffler stammt aus den 80er-Jahren. Ähnliches formulierte Miss S., die Heldin des Neuen Lernens, in ihrem letzten Weihnachtsbrief an uns Eltern:

"Wir beobachten die Kinder, wie sie ihr Selbstbewusstsein aufbauen und Widerstände überwinden. Wir sind Zeuge, wie jedes Kind eigene Talente und Persönlichkeit entwickelt. Wir freuen uns mit ihnen, wenn sie Erfolge erzielen. Es ist eine so große Ehre für uns, Zeuge dieses Prozesses zu sein. Wir sind so stolz auf sie!"

Mehr Zukunft kann nicht sein!

www.zukunftsinstitut.de

Matthias Horx lebt als Trend- und
Zukunftsforscher in Wien.

In unserem Schulsystem wird nicht der Einzelne gefördert, sondern das System.

17.05.2003


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