Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert

Vom 24. bis 25. Februar 1997 fand in Luxemburg unter der Patronanz der DG XIII (Telecommunications, Information Market and Exploitation of Research) und der DG XXII (Education, Training and Youth) der European Commission das Workshop „Teaching, learning and information: towards an open Socratic school“ statt.

Norbert Bartos

Ziel dieser Veranstaltung war, den Einsatz von Multimedia im Schulbereich unter besonderer Beachtung der Auswirkungen auf die Anforderungen an die Lehrenden, die Schüler und die Infrastruktur, sowie eventuell mögliche Gefahren durch falschen oder unangemessenen Einsatz der neuen Technologien zu diskutieren. Der Autor nahm im Auftrag des BMUkA an dieser Tagung teil und möchte die wesentlichen Aspekte mit Hilfe dieses Artikels einem interessierten Leserkreis zugänglich machen.


1 Teilnehmer und Vortragende


Insgesamt wurden 221 registrierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Jean Monnet Building des Centre Europeen am Stadtrand von Luxemburg begrüßt. Das Wetter war regnerisch und kühl, also für eine Tagung gerade richtig. Von den teilnehmenden Personen waren 24% aus Frankreich, 19% aus Luxemburg, 16% aus Belgien, 8% aus Großbritannien, jeweils ca. 5% aus Deutschland, Finnland und den Niederlanden, die restlichen 18% teilten sich (sortiert nach der Anzahl der Teilnehmenden) die Länder Italien, Schweden, Griechenland, Norwegen, Portugal, Dänemark, Spanien, Österreich (2 Personen), Irland, Israel, Polen, Rumänien und Ungarn. Die Arbeitssprachen waren Englisch und Französisch. Simultanübersetzungen wurden auch für Deutsch durchgeführt.

Es wurden 15 Vorträge von leitenden EU-Beamten der entsprechenden Generaldirektionen und Bildungsexperten aus verschiedenen Ländern gehalten. Besondere Beachtung fanden dabei die Vorträge von Andre Danzin, einem Mitglied des Club of Rome und der luxemburgischen Bildungsministerin Erna Hennicot-Schoepges.


2 Das konventionelle Schulsystem


Heute überwiegt noch immer der Frontalunterricht, wenn er auch oft gemildert wird, durch Projekte oder Fragestunden und dergleichen. Autonomes Verhalten von Schülern, sowie ausgeprägte organisatorische, kreative und kommunikative Fähigkeiten werden von manchen Lehrern als unangenehm empfunden und daher gering bewertet oder gar unterbunden. Schüler haben ab dem sechzehnten Lebensjahr den ausgeprägten Wunsch, Verantwortung zu übernehmen. Im Schulbereich gibt es dafür ausreichend Möglichkeiten zur Betätigung. Wohl gibt es viele punktuelle Aktivitäten von Lehrern, diese werden jedoch kaum gefördert. Die Motivation der höheren Stellen ist selten vorhanden und oft versinkt der Einzelne nach einer Phase der Euphorie bald in Resignation.

Die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen ist im Beruf unverzichtbar. Nach zehn Jahren zählen am Arbeitsplatz nicht mehr die Titel und Diplome, sondern nur die Leistung und die Bereitwilligkeit zur Anpassung an geänderte Situationen des Berufslebens.


3 Bildung in Europa und die Sokratische Schule


Die wesentlichen Konzepte der Sokratischen Schule sind die Anleitung zur Selbstanalyse zwecks selbständigem Wissenserwerbs, das Ausprägen der Fähigkeit zur aktiven (abgebenden) und passiven (empfangenden) Kritik unter Beachtung des Prinzips der Kooperativität, sowie das lebenslange Lernen mit der Zentrierung auf das bewusste Hinterfragen und Lösungssuchen in den Bereichen, in denen ein Wissensdefizit herrscht, weitgehend definiert.

Der autonome Wissenserwerb wird heute stark durch die neuen Medien unterstützt. Dabei finden Technologien wie Internet, ISDN, Multimedia und in weiterer Folge auch Virtual Reality mehr und mehr Verbreitung im täglichen Leben. Das konventionelle Schulsystem ist nur ein Weg, um Wissen zu erlangen. Es muss von dem heute noch existierenden Überhang an definitorischem Wissen befreit werden. Wissen über das Problemlösen und die Fähigkeit zum selbständigen Wissenserwerb ist wichtiger, als das Heranbilden von „Wissensdatenbanken“. Mechanische Tätigkeiten sollten dem Computer überlassen werden. Dies führt zu einer Evolution des Schulwesens, welche aber wahrscheinlich mehr als ein Jahrzehnt dauern wird.

Europa besitzt gegenüber Amerika und Japan einen Rückstand in der Ausbildung. Diese ist stark in den einzelnen Staaten isoliert und besitzt nicht die europäische Dimension um Synergien freizusetzen. Die Bildungssysteme sind zu starr und die finanziellen Mittel werden in Krisenzeiten gerne aus diesem Bereich abgezogen. Eine relevante Integration der Eltern und der Industrie in den Schulbereich wird selten beobachtet. Andererseits wird aber die Wettbewerbssituation in Europa im 21. Jahrhundert wesentlich von der Ausbildung bestimmt werden.  


4 Der Einsatz der neuen Medien im Unterricht


In Frankreich arbeiten 70% der Leute immateriell, das heißt in einer Sparte der Informationstechnologie. In New York steht im Mittel fünf Schülern ein Multimedia-Arbeitsplatz zur Verfügung. Die Kosten sind gleichmäßig auf die Bereiche Software, Hardware und Schulung aufgeteilt. In Portugal ist geplant, daß bis zum Jahr 2000 in jeder Klasse ein Multimediasystem verfügbar ist. Britische Studien zeigen aber, dass 70% der Lehrer den PC nicht in ihren Unterricht integrieren, also weder auf mögliche Anwendungen (und Risiken) ausreichend hinweisen, noch ihn aktiv verwenden. Der grundsätzliche Wille ist zwar meist vorhanden, aber es scheitert zum Teil an der nicht ausreichenden Anzahl der zur Verfügung stehenden Geräte und an der mangelnden Einschulung der Lehrer. Dadurch haben manche Lehrer auch Angst vor einer eventuellen Überlegenheit der Schüler in den neuen Technologien. Der PC wird oft noch eher als „Add-on“ denn als Werkzeug gesehen. Untersuchungen in Amerika zeigen, dass die Motivation und die Freude der Schüler am Unterricht mit steigender Intensität des PC-Einsatzes steigt. Der Computer übernimmt „mechanische“ Tätigkeiten, sodass für die Kreativität mehr Zeit bleibt. Die dafür nötige Software ist zu 90% bereits an den Schulen vorhanden, sie wird jedoch oft unangemessen oder auch gar nicht genutzt. Mädchen haben wohl größere Anfangsschwierigkeiten mit dem PC, weil sie selten die Übungsmöglichkeiten der Burschen zu Hause besitzen, jedoch in weiterer Folge sind sie (unter sonst gleichen Voraussetzungen) geschickter im Umgang mit diesem Medium.

Als äußerst problematisch wird allerdings die derzeitige Vorgangsweise in der Betriebsführung und Wartung der PC-Netzwerke gesehen, wo eine Vielzahl von engagierten Lehrkräften größtenteils in ihrer Freizeit für den reibungslosen Betrieb sorgt. Mit der zunehmenden Anzahl von Rechnern und der steigenden Komplexität der Netze ist ein sinnvoller Betrieb nur mehr durch Serviceverträge mit einschlägigen Firmen oder durch hauptberuflich zuständiges (und entsprechend entlohntes) Personal möglich.

Dem optimalen Design von computerisierten Arbeitsplätzen wird häufig nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt. Der Arbeitende sollte in der Wahl seiner Arbeitsmittel frei sein. Nicht alles was modern ist, muß auch effizient und ohne Nachteile sein. Neue Computer werden oft einfach nur planlos in einen Raum gestellt und für die Benutzung ohne Richtlinien freigegeben. Der PC nimmt dann meist einen Arbeitsplatz komplett ein und wird dadurch zum Mittelpunkt der Aktivität. Die Folge ist ein computerzentriertes Denken, welches einen zwanghaften Einsatz des Computers in möglichst vielen Bereichen nahelegt, ohne auf den tatsächlichen individuellen und situationsabhängigen Bedarf Rücksicht zu nehmen. Ein striktes „Hands-on“ von Beginn weg hat sich in der Schulung als ungünstig erwiesen, obwohl es in manchen Fällen durchaus angebracht erscheint. Die Analysephase (bekannt aus der Softwareentwicklung) sollte nicht unterbewertet werden. Generell ist die Verwendung der Prinzipien des Projektmanagements unbedingt nötig. Ein gewaltsames Einsetzen des Computers in einem bestimmten Bereich, ohne eine stichhaltige Rechtfertigung (nur weil es modern ist), ist abzulehnen.

Die Frage nach der Bewertung von Wissen, welches über computergestützten Unterricht und ODL (Open Distant Learning) angeeignet wurde, ist noch weitgehend ungeklärt. Es wird sich daher in weiterer Folge eine Art von „Computer-Pädagogik“ oder eine „Computer Integrated Didactic“ (CID) entwickeln, wobei hier alle Bereiche der Bildung beteiligt sein müssen. Der Computer kann den Lehrer nicht ersetzen. Die Form der einfachen Lernprogramme des „Computer Based Trainings“ (CBT) ohne jede Möglichkeit zur Individualisierung ist abzulehnen. Derartige Software wird wieder vom Markt verschwinden. Allerdings ist dieser Markt in seiner jetzigen national isolierten Form für die Erzeugerfirmen der entsprechenden Software auch nicht geeignet, einen beträchtlichen Gewinn zu erzielen.

Die beste Schulungssoftware kann nur in der Schule selbst entstehen, da dort auch das notwendige fachliche und pädagogische Wissen einer Vielzahl von Experten zur Verfügung steht. Schulungssoftware von externen Firmen entspricht selten allen Anforderungen. Diese Software kann nicht nur im Rahmen von Projekten in eigenen Multimedia-Studienrichtungen entwickelt werden, sondern auch im Gegenstand EDV/Angewandte Informatik der konventionellen Studienrichtungen.


5 Die Änderung des Berufsbildes der Lehrer


Hand in Hand mit dem Einsatz der neuen Technologien geht auch eine Änderung der Aufgaben der Schule und der Lehrer einher. Die Lehrer werden vom „Sprachrohr zur Wissensverbreitung“ hin zum Begleiter, Berater, Organisator und Therapeuten (Guide, Coach, Troubleshooter) mutieren und damit höheren intellektuellen und organisatorischen Anforderungen ausgesetzt werden. Über die Lehrpersonen muß in Zukunft die logisch-analytische, praktisch-organisatorische, intuitiv-kreative und emotional-interpersonelle Intelligenz der Schüler gefördert werden. Die Kooperativität muß auch zwischen Lehrer und Schüler gelebt werden. Allerdings sind die meisten Lehrer heute auch in ihrem Beruf weitgehend noch Einzelkämpfer (durch die festen Stundenpläne und den hohen Anteil an Frontalunterricht bedingt) und müssen erst selbst zu einer verstärkten Teamfähigkeit hingeführt werden.

Lernen wird stärker individualisiert sein, jedoch muss durch geeignete pädagogische Maßnahmen eine Isolation der Schüler vermieden werden. Weltweit ist der „Computer-Analphabetismus“ besorgniserregend im Steigen begriffen, sodass die Ausgrenzung von Personen durch Förderung des Zuganges von Personen zum Computer bekämpft werden muss. Weiters ist vermehrt auf die grundsätzlich vorhandenen, jedoch bei den Schülern unterschiedlich ausgeprägten Lernparadigmen zu achten (prototypisches Lernen, Lernen durch Belehrung, Lernen durch Übung mit Feed-Back, Lernen durch Versuch und Irrtum, Lernen durch Erforschen, Lernen durch kreatives Entdecken und Konstruieren). Das Kundenbewusstsein ist stärker auszuprägen, denn der Lehrer ist grundsätzlich für den Schüler da.


6 Konsequenzen für das Management


Es muß zu einer verstärkten Lehreraus- und weiterbildung kommen, die auch die entsprechenden finanziellen Mittel verlangt. Die Schulleitung muß die vielfältigen Einzelaktivitäten koordinieren und fördern, jedoch ohne durch Zwang demotivierend zu wirken. Eine intensive Schulung der Führungskräfte ist vorab aber zwingend nötig. Nur so können die globalen Zusammenhänge und Trends erkannt und eine sinnvolle Koordinationstätigkeit durchgeführt werden. Bürokratische Hürden und strenge Hierarchien behindern die Kreativität und Motivation der engagierten Personen.

Die Entlohnung der teilweise enorm aufwendigen und meist freiwillig übernommenen Zusatzaufgaben (Netzwerkbetreuung, Gerätewartung, ...) der engagierten Kollegenschaft im Bereich der neuen Technologien, ist ein derzeit noch ungeklärter Punkt. Die verteilten EDV-Kustodiatsstunden lösen das Problem nicht ausreichend, da Synergien nicht nutzbar sind. Die Akkumulation derartiger Kustodiatsstunden zwecks Anstellung hauptberuflicher Spezialisten mit entsprechender Verantwortung ist sicher der bessere Weg.

In der letzten Zeit setzt man, vor allem in Führungskreisen, große Hoffnungen auf EU-Förderungen. Arbeiten im Rahmen solcher EU-Projekte sind aber in den seltensten Fällen angemessen entlohnbar, da einerseits die Vorbereitungsarbeiten in der Einreichphase ohnedies unbezahlt in der Freizeit der Lehrer erfolgen müssen und andererseits die Förderungen eher bescheiden sind. Wird ein Projekt abgelehnt, so war die gesamte bis dahin aufgelaufene Arbeit umsonst (in allen möglichen Bedeutungen dieses Wortes). Der Autor ist im Bereich der EU-Projekte recht aktiv und kennt die genannten Probleme aus eigener Erfahrung sehr genau.

Lernen muss menschlich bleiben. Diesen Satz formulierte Andre Danzin, ein Mitglied des Club of Rome. Viel zu selten sind Bildungsstrategien auch politische Ziele, sodass beim Setzen von Sparmassnahmen gerne im Bildungsbereich begonnen wird. Die tatsächliche Struktur des zukünftigen Schulwesens ist heute noch weitgehend unbekannt. Es werden viele Experimente (mit manchen Fehlschlägen) nötig sein, um den optimalen Weg zu finden.