Multimedia und Internet -
neue Perspektiven für die Bildung


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Im Rahmen der Systems 97 (27. -31. 10.1997), dem bedeutendsten Herbstevent für Informationstechnologie und Telekommunikation, fand an zwei Messetagen das 30. Symposium der Gesellschaft für Pädagogik und Information (GPI) “Multimedia und Internet - neue Perspektiven für die Bildung” statt. Neben der GPI waren das Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung (ISB) München, das Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU) in Grünwald, das Bayerische Staatsministerium für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst in München sowie die Messe München GmbH. Veranstalter dieser im Kongreßsaal Bavaria (K1) am 27. und 28. Oktober 1997 abgehaltenen Tagung.

Anton Reiter

Prof. Dr. Ludwig J. Issing vom Institut für Pädagogische Psychologie und Medienpsychologie an der Freien Universität Berlin, zugleich auch erster Vorsitzender der GPI, verwies in seiner Grußadresse auf die Notwendigkeit, die an den Ständen der Systems 97 vorgeführten neuen technologischen Entwicklungen, Geräte und Anwendungen zum Anlaß zu nehmen, auf der Grundlage wissenschaftlicher Kenntnisse und Konzepte die Perspektiven von Multimedia und Internet für den Bildungsbereich im Rahmen des Symposiums ausführlich zu erörtern. “Beide Bereiche benötigen sich gegenseitig: Hardware-Markt und Software-Entwicklung auf der einen Seite, wissenschaftliche Fundierung und pädagogisch-didaktische Verwendung auf der anderen Seite”, sagte Issing. “Wenn wir den Übergang in das Informationszeitalter gesellschaftlich erfolgreich bewältigen wollen, müssen die neuen Technologien in den Bildungsalltag integriert werden”. Hierzu bedürfe es des Erwerbs neuer Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen - sowohl auf Seiten der Lehrenden als auch auf Seiten der Lernenden. In erster Linie sei in diesem Zusammmenhang die Lehreraus- und Weiterbildung gefordert, bemerkte Issing. Außerdem seien technische, organisatorische und didaktische Mindestvoraussetzungen in den Bildungseinrichtungen zu schaffen. Aber auch in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung müßten seiner Meinung nach mit Hilfe der neuen Technologien effiziente orts- und zeitunabhängige Lern- und Trainingsformen realisiert werden. Abschließend verwies Issing auf eine Pro und Kontra-Debatte in der Zeit-Artikelserie “Lernen in der Medienwelt” zwischen dem deutschen Bundesbildungsminister Dr. Jürgen Rüttgers und dem “Bewahr”-Pädagogen Hartmut von Hentig, der seit Jahrzehnten einen “Kriegszug” gegen den Computereinsatz im Bildungsbereich führt. “Derartige Auseinandersetzungen sind zwar notwendig”, so Issing, seien aber nur dann fruchtbar, wenn sie auf hinreichender Sachkenntnis beruhen und offen für neue angemessene Lösungsformen der anstehenden Aufgaben im Bildungsbereich sind.

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Der Direktor des Staatsinstitutes für Schulpädagogik und Bildungsforschung ISB in München, Dr. Peter Meinel, erklärte in seiner Grußadresse, daß viele Kinder und Jugendliche seiner Meinung nach keine Berührungsängste gegenüber modernen Medien und Technologien haben. Sie nutzen diese unbeschwert für Freizeit und Unterhaltung, oft in einem Umfang, der Pädagogen mitunter schon bedenklich erscheinen muß. Darin liege aber auch eine sehr große Chance, denn die Schule und das gesamte Bildungswesen können daran anknüpfen, wenn es um einen sinnvollen Einsatz der neuen Medien, insbesondere von Multimedia und Telekommunikation im Unterricht und auch beim selbständigen Lernen, gehe. “Diese pädagogisch-didaktische Einbindung neuer Medien und Technologien wird manch eine herkömmliche Form der Bildungsvermittlung und des Lernens nicht ersetzen können, sie ist aber angesichts der großen Veränderungen in Familie, Gesellschaft und Wirtschaft geradezu notwendig”. Meinel betonte, daß es nicht genüge, Schulen und Bildungseinrichtungen gleichsam flächendeckend mit neuester Hard- und Software auszustatten, zusätzlich sei eine große geistige Anstrengung und auch ein nachhaltiger bildungspolitischer Innovationswillen erforderlich. Die Implementierung einer der Leistungsfähigkeit neuer Medien angemessenen pädagogischen Konzeption müsse mit der Schaffung der infrastrukturellen Voraussetzungen im Bildungsbereich Hand in Hand gehen, erklärte Meinel. “Aufgerufen sind alle Pädagogen in Wissenschaft und Praxis, sich auf Neues einzulassen und angesichts faszinierender technologischer Möglichkeiten auch über neue Formen des Lernens und der Unterrichtsorganisation nachzudenken” und dabei mitzuhelfen, diese in den Unterrichtsalltag sinnvoll zu integrieren.

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Der designierte Direktor des Institutes für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht FWU in Grünwald bei München, Dr. Uwe L.Haass, kam in seiner Grußadresse auf die Dynamik des Begriffes Multimedia in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu sprechen. Multimedia schließe inzwischen die maschinelle Begleitung von kognitiven Prozessen mit ein, sagte Haass. “Die Kombination mit der Systems 97 erscheint deshalb zweckmäßig, weil damit ein Hintergrund genutzt werden kann, vor dem sich technische Entwicklungen und gegenwärtige Märkte vor Multimedia und Internet präsentieren”. Besonders die FWU begreife sich als Motor für medienpädagogische Innovationen und arbeite aktiv an der Integration von Pädagogik und Technik mit, wobei Haass auf den Gemeinschaftsstand des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst im Rahmen der Sonderschau “Schule & Computer 97” in Halle 23 verwies. “Während im öffentlichen Bildungsbereich eine breitenwirksame Nutzung von Multimedia bedauerlicherweise noch nicht stattfindet, hat sich”, sagte Haass, “im betrieblichen Bildungsbereich ein ausgesprochen dynamischer Markt für multimediale Systeme und Internet-Lösungen entwickelt". Für die FWU sei es von großem Interesse, wie diese Entwicklung zu bewerten ist und welche Erfahrungen in anderen Bildungsbereichen genutzt werden können. Ein zweites Gebiet, in dem sich zahlreiche Initiativen und Projekte entfalten, seien Anwendungen in der Hochschuldidaktik, fuhr Haass fort; auch hier gelte es Erfahrungen und Ergebnisse zu bündeln und für praktische Anwendungen in anderen Bereichen der Bildung nutzbar zu machen.

Im Anschluß an die Grußadressen wurde die Veranstaltung mit dem Hauptvortrag von Prof. Dr. Ernst Pöppel vom Institut für Medizinische Psychologie der Universität München zum Thema “Lernen mit Multimedia - neue Gesichtspunkte der modernen Neurologie und Psychologie” fortgesetzt. Lernen diene dem Aufbau von Wissen, sagte Pöppel, doch was meinen wir wirklich mit ”Wissen”, dem zentralen Begriff der modernen Informations- und Wissensgesellschaft? Wir unterscheiden mindestens drei Formen des Wissens, wenn wir den Wissens-Begriff neurowissenschaftlich analysieren:

a) Semantisches (explizites, verbal verfügbares) Wissen,

b) episodisches (persönliches, bildhaftes, emotional gefärbtes) Wissen,

c) prozedurales (Handlungs-) Wissen.

In der Tradition des cartesischen Rationalismus nach dem Funktionsschema R= f (S) setzen wir “Wissen” häufig mit der ersten Form, dem semantischen Wissen, gleich. Das sei falsch, sagte Pöppel. “Uns Menschen gemäßes Wissen muß alle Wissensformen umfassen - und das gilt bei jeder Form des Wissenserwerbes zu berücksichtigen -unabhängig von gesellschaftlichen oder technologischen Randbedingungen”. Abstraktes Wissen allein sei unfruchtbar, episodisches Wissen allein unverbindlich, prozedurales Wissen allein ziellos. “Für die Gestaltung menschlichen Wissens sind die ersten 10 Lebensjahre entscheidend”, erklärte Pöppel. In dieser Zeit werde die Grundmatrix der subjektiven Erfahrung und der Lebensgestaltung festgelegt. Die Lernform der Prägung im Sinne Konrad Lorenz, die von anderen Lernformen (operantes oder klassisches Konditionieren, Habituation oder sensomotorisches Lernen) neurobiologisch und psychologisch zu unterscheiden sei, bewirke, daß die vorhandene Plastizität des jungen Gehirns strukturell festgelegt werde. Gelerntes (typischer Weise in sensiblen Phasen) führe zu irreversiblen Ergebnissen, das heißt zum Lernerfolg mit Nachhaltigkeit (z.B. bei der Muttersprache). So komme es in der Praxis bspw. wohl äußerst selten vor, daß aus einem geizigen Menschen jemals ein freigebiger Mensch wird. Diese Offenheit des jungen Gehirns bedeutet nun, daß nicht nur formale Handlungsabläufe - Lesen und Schreiben, mit einem PC umzugehen - einprogrammiert werden, sondern daß auch das “Was” des Gelernten bestimmend ist. “Welche Werte in einer Gesellschaft maßgeblich sind, was hier als gut oder nicht-gut angesehen wird, wird aufgenommen und führt zur strukturellen Verankerung in unserem Gehirn”. Positive Werte wie negative (z.B.: Vorurteile) führen zur Ausprägung unserer Mentalität, die strukturell in unserem Gehirn festgelegt wird.

Pöppel demonstrierte am Beispiel des Umkippeffektes, den man beim Betrachten eines Würfels erlebt (Was ist vorne? Was ist hinten?), die “Gesetzmäßigkeiten” der visuellen Wahrnehmung.

Diese Randbedingungen, in denen sich anthropologische Universalien ausdrücken, müssen in jedem pädagogischen Konzept berücksichtigt werden, also auch beim Einsatz moderner Technologien in der Welt von Multimedia. Mit der Aussage, daß der menschliche Geist nicht rationalisiert werden kann, stellte sich Pöppel gegen die (Ergebnisse) der Künstlichen Intelligenzforschung. “Allein die Verfügbarkeit von Technologien bedeute noch gar nichts - so groß zunächst die Faszination auch sein mag”, sagte Pöppel. Das Internet sei noch nicht auf der technologischen Ebene, um allen vorbehaltlos eine Nutzung zu empfehlen; die zeitliche Dynamik der Wissensgenerierung ist z.B. bisher nicht berücksichtigt. Szenarien der Virtuellen Realität (VR) seien bisher nur ein Versprechen, doch technisch unbefriedigend. Abschließend betonte Pöppel, daß auf der Hardware- und Software-Seite noch viel getan werden müsse, um moderne Technologien einzusetzen. Die Technologie müsse sich an menschlichen Erfahrungsmöglichkeiten, an anthropologischen Konstanten orientieren; eine Technologie habe keine Zukunft, wenn nur wir uns - über das menschliche Maß hinaus - an technischen Bedingungen anpassen müssen.

Im anschließenden Block mit dem Thema “Aktuelle Fragen und Antworten aus der Wissenschaft zum Lernen mit Multimedia und Internet” unter der Moderation von Prof. Dr. Ludwig J. Issing standen Kurzvorträge mit Diskussionsmöglichkeit auf dem Programm. Prof. Dr. Michael Hannafin von der University of Georgia, Athens/USA, referierte in Englisch zum Thema “Better Learning with Multimedia? Concepts and Results from Psychology and Education”. Obwohl es eine Reihe von wissenschaftlichen Veröffentlichungen über die Wirkungen von interaktiven Multimedia-Systemen auf das Lernen und die Arbeitsleistung gebe, sagte Hannafin, vermitteln die einzelnen Publikationen den Entscheidungsträgern eigentlich nur wenig konkrete Anhaltspunkte für die Planung von Unterrichts- und Trainingssystemen. Die veröffentlichten Berichte seien stark durch Störungsfaktoren beeinflußt, wie z.B. methodische Probleme, schwache bzw. unvollständige, theoretische Fundierung oder Übergewicht auf Seiten der Forschung. Daher sei es eher schwer, wichtige von unwichtigen Forschungsergebnissen zu trennen und zu entscheiden, auf welche Forschungsergebnisse man im Einzelfall zugreifen könne. In seinem Referat zeigte Hannafin eigene Forschungsergebnisse auf der Grundlage psychologischer und pädagogischer Theorien auf und nannte die für ihn daraus abgeleiteten Schlußfolgerungen für das Design und die Realisierung interaktiver Multimedia-Systeme sowie deren Relevanz für den Rahmen und die Implementation multimedialer Bildungssysteme. General Guidelines für Hannigan sind beispielsweise:

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Danach referierte Prof. Dr. Heinz Mandl von der Ludwig-Maximilians-Universität München zum Thema “Multimediale Lernumgebungen für selbständiges Lernen - Haben Lehrer und Dozenten ausgedient?” Die Chancen multimedialer Lernumgebungen für selbständiges Lernen basieren nach Mandl auf den folgenden Möglichkeiten: “Der Lernende kann

Trotz aller Vorzüge und Chancen selbständigen Lernens dürfe dabei nicht vergessen werden, daß nicht alle Inhalte über selbstgesteuerte Lernformen erworden werden können. Außerdem profitieren nicht alle Lernenden in gleichem Umfang vom eigenaktiven Lernen, sagte Mandl. “Gerade das, was das selbständige Lernen so auszeichnet, nämlich die großen und vielen Spielräume für eigene Entscheidungen beim Wissenserwerb, können sich auch zum Bummerang entwickeln”. Der Slogan “Lost in Hyperspace” bringe das Problem auf den Punkt: Lernen müsse zwar eigenaktiv und in weiten Strecken selbstbestimmt erfolgen, komme aber ohne ein gewisses Maß an Anleitung und Unterstützung kaum aus, erklärte Mandl. “Lehrer und Dozenten haben keinesfalls ausgedient - nur der Schwerpunkt der Tätigkeit verändert sich, Lehrende werden künftig weniger Wissensinhalte darbieten, sondern vielmehr multimediale Lernumgebungen bereitstellen und Lernende dabei anregen, unterstützen und beraten”. Diese Neuorientierung der Lehrerrolle stelle nach Mandl eine große Herausforderung an die Aus- und Weiterbildung von Lehrern dar und beinhalte die Entwicklung einer neuen Lernkultur.

Prof. Dr. Mandl stellte in seinem Vortrag die traditionelle der konstruktivistischen Lern- Lernphilosophie gegenüber, wie die nachfolgenden (vom Verfasser nachbereiteten Folien) zum Ausdruck bringen sollen:

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Als nächster Redner sprach Prof. Dr. Friedrich W. Hesse vom Deutschen Institut für Fernstudienforschung (DIFF) der Universität Tübingen zum Thema “Kooperativ Lernen und Kommunizieren über Telemedien - schwieriger als man denkt?” “Telemedien bieten für die Kommunikation und Kooperation neue Möglichkeiten, sagte Hesse, die sowohl überschätzt als auch unterschätzt werden”. Sie werden deshalb unterschätzt, weil die Leitbilder noch zu häufig an den traditionellen Modellen der Face-to-Face Interaktion orientiert seien. Hier gelte es, die spezifische Besonderheit des medienbasierten, interpersonellen Austausches zu analysieren - und daraus abgeleitet - neue Formen des Austausches zu etablieren.

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Telemedien werden nach Hesse überschätzt, weil viele Aspekte des interpersonellen Austausches zu Problemen und Schwierigkeiten führen können, die nur teilweise behebbar seien und spezifischer Gegensteuerung bedürfen. So wisse man, daß die “soziale Präsenz” der telematischen Partner deutlich reduziert ist. Ebenso kritisch sei der Toleranzbereich zu sehen, in dem Wissensunterschiede zwischen den am Austauschprozeß beteiligten Partnern variieren dürfen. Entscheidend sei daher nach Hesse für einen effizienten Austauschprozeß, daß bestimmte Voraussetzungen innerhalb eines Austauschszenarios geschaffen werden. Das Potential für die Nutzung neuer Medien sei dann am größten, wenn lokale Bezugssysteme und Mediennutzung kombiniert werden können.

Letzter Redner vor der Mittagspause war Prof. Dr. Michael Kerres von der Teleakademie Fachhochschule Furthwangen zum Thema “Wie läßt sich Medienkompetenz bei Lehrkräften und Medienproduzenten entwickeln?”

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Die Bedeutung einer “Medienkompetenz” für die Bewältigung der Anforderungen allein an die Informationsgesellschaft sei offensichtlich; die Vermittlung von Medienkompetenz werde in der öffentlichen Diskussion zunehmend von verschiedenen Seiten als pädagogische Aufgabe gefordert. Im Gegensatz dazu sei die Definition des Begriffes “Medienkompetenz” jedoch weniger eindeutig. Hinzu komme, daß die Anforderungen an eine Medienkompetenz je nach Zielgruppe unterschiedlich zu bestimmen seien. Eine wichtige Funktion von Medienkompetenz sei die Fähigkeit kritisch zu denken, wie dies Joseph Weizenbaum erklärt, allerdings verschiedene Zielgruppen bezogen. “Bislang wurden”, erklärte Kerres, “vorrangig die Konsumenten von Medien thematisiert. Zunehmend stellt sich jedoch auch die Frage, wie den Produzenten von Medien eine Medienkompetenz vermittelt werden kann, die über die technischen Fertigkeiten in der Produktion hinausgeht". Als weitere spezifische Zielgruppe seien Lehrkräfte zu nennen, deren Medienkompetenz vielfach bemängelt wird. Auch hier stelle sich nach Kerres die Frage, über welche Medienkompetenz Lehrende verfügen sollten und wie sich diese auf die Medienkompetenz von Lernenden auswirkt. Abschließend stellte Kerres das Lehrangebot der Fachhochschule Furthwangen näher vor, wobei die Ausbildung von Produzenten von Bildungsmedien als Vertiefungsrichtung im Studiengang Medieninformatik vorgesehen ist; auch das weiterbildende Studium ”Neue Bildungsmedien” als internet-basiertes Kursprogramm für Lehrende und Bildungsverantwortliche des privaten und öffentlichen Bildungswesens wurde von Kerres erläutert.

Nach der Mitagspause hatten die Teilnehmer die Wahl am Forum A “Multimedia im öffentlichen Bildungsbereich - Konzepte, Initiativen, Ergebnisse, Perspektiven” unter dem Vorsitz von Dr. Joachim Thoma von der Senatsverwaltung für Schule, Berufsbildung und Sport, Berlin, oder am Forum B “Multimedia in der beruflichen Aus- und Weiterbildung - Konzepte, Initiativen, Ergebnisse, Perspektiven” unter der Moderation von Prof. DDr. Gerhard E. Ortner von der Fernuniversität Hagen (auch Vorstand der GPI) sowie Prof. Dr. Uwe Lehnert von der Freien Universität Berlin, teilzunehmen. Der Verfasser besuchte das Forum A.

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Dr. Detlef Garbe von der Deutschen Telekom AG-Zentrale Bonn referierte als erster zum Thema “Die Schule auf dem Weg in das Informationszeitalter - Schulen ans Netz”. “Wir reden seit 30 Jahren vom Konzept des Lifelong Learning, mit Multimnedia-Instrumenten haben wir endlich einen Weg dazu!”, forderte Garbe. Dann kam er auf die Initiative “Schulen ans Netz” zu sprechen, die im Früjahr 1996 vom Deutschen Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Dr. Jürgen Rüttgers, und der Deutschen Telekom AG mit der Intention gestartet wurde, in Zusammenarbeit mit den Ländern die Schulen an die Anforderungen der Informationsgesellschaft heranzuführen. “Mit dieser Initiative soll deutlich mehr Schulen die Arbeit mit Computern und Netzen ermöglicht werden als durch Modellversuche und Pilotprojekte bisher der Fall war. Insbesonders sollen solche Schulen Lehrer und Lehrerinnen, Schüler und Schülerinnen animiert werden mitzumachen, die noch keine Erfahrungen mit Computern und Netzanschlüssen haben”, sagte Garbe. Der gemeinsam gegründete Verein “Schulen ans Netz” e.V. habe die Förderung konkreter Projekte in Schulen und in der Lehrerfortbildung in den Mittelpunkt gestellt. In regelmäßigen Abständen finden dazu Ausschreibungen statt, wobei Initiatoren und Sponsoren finanzielle Mittel, Sachleistungen und das Know-how für Projekte zur Verfügung stellen. “Wirtschaft, öffentliche Hand und Schule gehen einen gemeinsamen Weg nach vorn ins Informationszeitalter”, erklärte Garbe.

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Im Internet (siehe unter http://www.san-ev.de/) bietet die Initiative ein Forum, in dem Erfahrungen dargestellt und Diskussionen über Computer, Netze und Unterricht geführt werden. Aktionen, regionale Sponsorangebote, spezielle Tools sowie kostenlose Software für den Unterricht finden sich ebenfalls unter dieser Adresse. Durch regelmäßige Publikationen informiert “Schulen ans Netz” die Öffentlichkeit über neue Informationstechnologien im Unterricht und in der Schule. Im Kuratorium der Initiative seien Wissenschaftler, Pädagogen und Sponsoren vertreten, die gemeinsam neue Perspektiven für den Einsatz und die sinnvolle Nutzung von neuen Technologien im Bildungswesen entwickeln.

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Prof. Dr. Stefan Aufenanger vom Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg sprach zum Thema “Mit Multimedia in die Zukunft? Erfüllen die Lernangebote für Schulen und Jugendbildung die Erwartungen?”

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In seinem Vortrag gab Dr. Aufenanger einen Überblick über den Markt der multimedialen Angebote und griff auch zukünftige Entwicklungen auf. Anhand von Kriterien aus vorliegenden lerntheoretischen (im besonderen der konstruktivistischen Perspektive des Lehrens und Lernens) und medienpsychologischen Ansätzen sowie aus der empirischen Forschung analysierte Aufenanger unterschiedliche Typen von Lernanwendungen:

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Beispielhaft ging er auf die mit dem Digita 97 bei der 49. Frankfurter Buchmesse ausgezeichneten CD-ROM-Titel ein, nämlich

und kam zur Ansicht, daß die Mehrzahl der Lern-CDs

Aufenanger zeigte die Differenz zwischen mediendidaktischen Ansprüchen, lerntheoretischen Begründungen und praktischer Realisierung auf und nannte abschließend mögliche Perspektiven für die zukünftige Entwicklung von Lernumgebungen:

Letzter Redner vor der Plenarveranstaltung war Prof. Dr. Ulrich Glowalla vom Fachbereich Psychologie an der Justus-Liebig-Universität in Giesen. Im Rahmen seines Themas “Umgestaltung der Hochschule durch Multimedia und Internet?” sagte Glowalla, daß Multimedia und Internet die Hochschulen bereits verändert haben und dies auch in Zukunft noch stärker tun werden. Ein wesentliches Kennzeichen der Veränderung sei es, daß zunehmend mehr Personen gemeinsame Ressourcen nutzen, ohne eng an “gemeinsame” Orte oder gemeinsame Arbeitszeiten gebunden zu sein. Dies biete eine Reihe von Chancen, könne aber auch Probleme mit sich bringen. Glowalla zählte vier Bereiche auf, in denen Multimedia und Internet die Universitäten verändern würden:

Der erste Bereich sei die Wissensvermittlung im Studium. Multimediale Lernsysteme eröffnen den Lernenden neue Möglichkeiten: Dynamische Visualisierungen können komplexe Vorgänge veranschaulichen und besser verstehbar machen. Manipulierbare Simulationen erlauben den Lernenden selbständig zu prüfen, ob seine Ideen über die Funktionsweise eines Systems zutreffen. Diagnose-Komponenten bieten Rückmeldungen über Lernleistungen. Online-Tutoren können individuell ihre Fragen beantworten.Der zweite Bereich betreffe die fächer- und universitätsübergreifende Zusammenarbeit in der Lehre. Die neuen Medien erlauben es hier, daß Fachbereiche derselben oder verschiedener Disziplinen über die Grenzen der jeweiligen Universität hinweg zusammenarbeiten. Die Möglichkeit besteht in der gemeinsamen Gestaltung von Seminaren. So können beispielsweise Dozenten der Universität Giesen und München eine Kooperation hinsichtlich ihrer Seminare vereinbaren. In Giesen wird ein Seminar zum Thema A angeboten, an dem Studierende der Universität München online teilnehmen können. In München wiederum wird ein Seminar zum Thema B angeboten, an dem Studierende der Universität Giesen teilnehmen können. Die jeweils erworbenen Zeugnisse werden an beiden Universitäten ohne bürokratischen Aufwand anerkannt. Gerade solche innovativen Formen der Zusammenarbeit in der Lehre erfordern laut Glowalla ein radikales Umdenken in der Organisation. Der dritte Bereich zielt auf die Organisation des Studiums durch die Studierenden ab. Da haben nämlich Studierende die Möglichkeit, Seminare in den verschiedenen Universitäten zu belegen. So bedeute dies nicht nur ein Mehr an Möglichkeiten, sondern auch ein Mehr an Auswahl und Organisation. Der vierte Bereich beziehe sich auf die fächer- und universitätsübergreifende Zusammenarbeit in der Forschung. Viele der uns heute bewegenden Fragen seien nicht mehr nur von einer Fachdisziplin allein zu beantworten. “Das Thema des Vortrags “Multimedia und Internet in der Universitätslandschaft ist so vielgestaltig, daß auch Psychologen, Informatiker, Mediendesigner, Pädagogen und Wirtschaftswissenschaftler dazu Stellung beziehen könnten, Multimedia und Internet erfordern in bislang ungeahnter Weise interdisziplinäre Zusammenarbeit”, sagte Glowalla..

Unter der Moderation von Prof. Dr. Ludwig J. Issing fand anschließend eine große Podiumsdiskussion zum Thema “Multimedia und Internet im Bildungsbereich - Sind wir auf dem richtigen Weg?” statt. Diskussionsteilnehmer waren Dr. Michael Drabe von der Initiative “Schulen ans Netz e.v.”, Dr. Uwe L. Haass, Direktor der FWU, Günther Loibl, Ministerialbeauftragter für die Realschulen in Niederbayern Landshut, Dipl.Päd. Harald Melcher von Cornelsen Software Berlin, Maximilian Neumayr von der BMW AG in München, Heinz Oesterle von der Siemens-Nixdorf AG in München, Dr. Peter Schenkel vom Bundesinstitut für Berufsbildung in Berlin, Dr. Karl Hinrich Vöge von der DeTe Berkom GmbH. in Berlin.

Dr. Drabe erklärte, daß eine breitangelegte Bildungsoffensive erforderlich sei, die mit dem Begriff “Lebenslanges Lernen” charakterisiert werden könnte. Die Schule sei vom ersten Schuljahr an in die Lage zu versetzen, Medienkompetenzen aufzubauen bzw. zu vermitteln. In den weiterführenden Schulen sei auf einer Fortsetzung der Vermittlung dieser Kompetenzen zu achten. Durch das Studium werde diese Kompetenz genutzt, um sach- und zielgerechter zu einem Abschluß geführt zu werden. “Im Schulleben bzw. im Studium ist unbedingt zu vermitteln, daß es in dem sich anschließenden Berufsleben der eigenen Verantwortung vorbehalten bleibt, inwieweit man sich den zwingenden Weiter- und Fortbildungsprozessen stellt”, sagte Dr. Drabe.. Es sei ein Bewußtsein darüber herbeizuführen, daß der aktuelle Arbeitsplatz von fortlaufenden Änderungsprozessen unterworfen sein kann, daß man sich nicht auf seiner bisherigen Ausbildung ausruhen könne und sich jederzeit auf Veränderungen bis hin zu völlig veränderten Arbeitsinhalten einzustellen habe. “Dies kann nur", so Drabe, “mit eigenverantwortlicher Weiterbildung erreicht werden”.

Der Direktor der FWU, Dr. Haass, der schon am Vormittag zu Wort gekommen war, erklärte folgendes: Die Begriffe Multimedia und Internet seien nur noch Arbeitsbegriffe, sagte Haass, inzwischen gehe es um Technologien für das Wissensmanagement. Nicht mehr die Übertragung und Darstellung von Daten, sondern die technische Behandlung, Speicherung, Vernetzung und Nutzung von Wissen stünden im Vordergrund. Hier eröffne sich die Perspektive einer weitreichenden Zusammenarbeit von Informatik, Kommunikations- und Kognitionswissenschaften sowie der Pädagogik. Multimedia und Telekommunikation mit den damit verbundenen Interaktions- und Kooperationsmöglichkeiten haben im Bildungsbereich zu hohen Erwartungen geführt, nämlich die Förderung von Lernmotivation, die Unterstützung selbstgesteuerter und eigenaktiver Lernprozesse und der Erwerb von “Schlüsselqualifikation”. “Bisherige Erfahrungen zeigen allerdings, daß die Hoffnungen zwar berechtigt sind, daß es aber noch größerer pädagogischer Anstrengungen bedarf, um das den neuen Medien innewohnende Potential pädagogisch sinnvoll nutzen zu können”, sagte Haass. Dazu gehören z.B. die curriculare Verankerung, schulorganisatorische Konzepte, die medienpädagogische Unterstützung der Lehrer und Lehrerinnen sowie die Entwicklung von Unterrichtsmodulen für unterschiedliche Fächer.

Die Wirtschaft sei derzeit Vorreiter im Einsatz neuer Bildungstechnologien. Dem Kostendruck folgend seien große Unternehmungen dabei, ihre Aus- und Weiterbildungsprogramme sowie die Innovationsfreudigkeit ihrer Mitarbeiter durch technische Systeme zu unterstützen. Dies biete außerdem Vorteile der raschen Verbreitung in alle Länder, schnellere Anpassungen auf Länder- oder Kundenspezifika, Home-Learning und eine bessere Verwaltung der Lehrinhalte. Pädagogen und Anbieter im öffentlichen Bereich sollten diese Entwicklung stärker verfolgen, um sie bei Bedarf für ihre Zwecke nutzbar machen zu können.

Der Ministerialbeauftragte Günter Loibl erklärte – nicht nur auf Bayern bezogen-, daß die Telekommunikation weltweit die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft bestimme. Erziehung, Unterricht und Verwaltung müssen sich den aktuellen Herausforderungen stellen.

Harald Melcher von Cornelsen Software verwies auf die Vielzahl an Multimedia-Entwicklungen und Online-Angeboten für den schulischen Bereich in der Bundesrepublik Deutschland. Er hob die Initiative “Schulen ans Netz” hervor, die neben ihrer Ausstattungsfunktion eine wichtige Rolle bei der Bewußtmachung der Bedeutsamkeit elektronischer Medien für Lehren und Lernen habe, auf die immer besser werdende Computerausstattung von Privathaushalten, die naturgemäß Schülerinnen und Schülern zugutekomme und von der wiederum Druck auf die Lehrerinnen und Lehrer, Schulen und Kultusverwaltungen ausgehe, sich in Zukunft damit dauerhaft bzw. als Lernmedium auseinanderzusetzen. “Derzeit”, schränkte Melcher ein, “mangelt es noch an einem überzeugenden, von Experten anerkannten neuem Modell von Schule und Lernen in der Informationsgesellschaft. Melcher beklagte den Mangel einer breiten gesellschaftlichen Diskussion über Sinn und Bedeutung von Bildung in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation. “Würden Bildung und Bildungsaufgaben bewertet und würde ihnen auch der volkswirtschaftliche Ertrag gegenübergestellt, würde vermutlich das derzeit vorherrschende Sparszenario als absolut kontraproduktiv gebrandmarkt, und es würde rasch einer vorausschauenderen Politik Platz gemacht werden”, sagte Melcher. Neben den bildungstheoretischen, pädagogischen und didaktischen Fragen würden vor allem die Finanzierungsfragen viel zu kurzfristig diskutiert werden, sagte Melcher. Das deutsche Bildungswesen habe jedenfalls als Perspektive für das 21. Jahrhundert Print, Multimedia und Online als Informationsträger einzubeziehen.

Heinz Oesterle (Siemens-Nixdorf) sagte, daß wir uns auf dem Weg in die Informationsgesellschaft befinden. Multimedia und globale Kommunikation seien expansive Wachstumsfelder in der Informationstechnologie. “Unter dem Schlagwort Multimedia werden heute alle Techniken der Informationsverarbeitung und deren Nahtstellen zu Soft- und Hardware verstanden". Davon sei die traditionelle Informationsverarbeitung z.B. mit Papier und Telefon nur ein kleiner Teil. Entscheidend für das rasche Wachstum sei die explodierende Leistungsfähigkeit der Rechner, Speichermedien und Netzwerke. Sie gestatten, klassische Daten problemlos mit Fotos, Musik, Video und Sprache zu kombinieren. “In der Informationsgesellschaft”, sagte Oesterle, “wachsen Arbeiten und Lernen immer näher zusammen”. Durch die datenverarbeitungtechnische Vernetzung der Arbeitsplätze werde handwerklich eine “Knowledge Base” gelegt”. Arbeitsumgebungen mit PC- und Internetanschluß befähigen Mitarbeiter

“Die Organisation erwartet”, sagte Oesterle, “daß der Mitarbeiter die Medien in diesem Sinne nutzt; also auch Lernumgebungen situativ auf seine Arbeitsumgebung abbildet". Für die Konstruktion flexiblen Wissens sei eine intranet-basierte, interaktive Lernumgebung am ehesten geeignet. Der Lerner müsse unterstützt werden, um mit seinen Erfahrungen Informationen zu verbinden und sie problembezogen zu Problemlösungswissen zu transformieren. Der Mitarbeiter habe kein Verständnis dafür, wenn seine Lernumgebung nicht seiner Arbeitsumgebung entspricht.

Daraus folge, daß die Lernumgebung so authentisch wie möglich sein müsse, also in Übereinstimmung mit Situationen und Problemen aus dem wirklichen Leben.

Maximilian Neumayer (BMW München) gab zu bedenken, daß Multimedia für die betriebliche Weiterbildung erst dann in vollem Umfang interessant werde, wenn die Mensch-Maschine-Interaktion/Schnittstelle reibungslos funktioniert; derzeit seien noch erhebliche Mängel vorhanden, sagte Neumayr.

Peter Schenkel (BIBB Berlin) sah in der Integration von Multimedia und Telekommunikation neue Lernarchitekturen, die alte Bausteine der Weiterbildung in neuer Weise zusammenfügt und um neue Bausteine ergänzt. “Der Entwurf innovativer Lernarchitekturen für die berufliche Bildung kann nur dann gelingen, wenn Lernende und Entscheider in der Lage sind, diejenigen Lernprogramme auszuwählen, die ihrer Problemlage und ihren Zielen entsprächen”, erklärte Schenkel. Im Bewußtsein der Bedeutung einer Qualitätsbeurteilung von Lernprogrammen warten Lernende und Entscheider auf klare Kriterien, nach denen Lernprogramme beschrieben und bewertet werden können. Solche Kriterien erscheinen als ein direkter und erfolgversprechender Weg zur Qualitätsbeurteilung.

Karl Hinrich Vöge (DeTeBerkom) zeigte auf, daß nach der Theorie der regulierten Märkte eine funktionierende, möglichst offene Infrastruktur vorbereitet werden müsse, um Anwendungen zu ermöglichen. Eine derartige Infrastruktur für den Bildungsbereich bestehe aus verschiedenen technischen, organisatorischen und personellen Unterstützungsfunktionen und existiere in der Bundesrepublik leider noch nicht. “Nur im Konsens mit Struktur aus Nutzungen und Support ist ein nachhaltiges Wissensmanagement möglich”, erklärte Vöge.

Im Anschluß an die unter reger Anteilnahme des Auditoriums geführte Podiumsdiskussion wurden durch den Bayerischen Staatsminister für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst, Hans Zehetmair, die GPI-Comenius-Medaillen für herausragende Bildungsmedien verliehen. Am Abend stand für GPI-Mitglieder bzw. eingeladene Gäste ein Empfang auf dem Programm. Zu diesem Zeitpunkt trat der Verfasser bereits die Heimreise an. Das 30. Symposium der Gesellschaft für Pädagogik und Information wurde am darauffolgenden Tag (28. 10. 1997) in Form von Kurzvorträgen und Sektionssitzungen im kleineren Kreis fortgeführt bzw. Zu Mittag abgeschlossen.