Tendenzen im berufsbildenden Schulwesen

Norbert Bartos

Vom 17. bis 19. September 1997 fand in Martin-Priekopa im Nordosten der Slovakischen Republik die diesjährige Konferenz des PHARE-Programms der EU statt, an welchem der Autor dieses Artikels als Vertreter des TGMs teilnimmt. Das PHARE-Programm hat zum Ziel, die berufliche Erstausbildung in der Slovakei zu reformieren. Die betroffene Schultype ist HTL-artig, jedoch nur 4-jährig und endet ebenfalls mit einer kommissionellen Prüfung entsprechend unserer HTL-Matura. Die Lehrpläne sind ähnlich, jedoch auf Grund der kürzeren Ausbildungszeit und der geringeren Wochenstundenanzahl von 33 Wochenstunden komprimiert. Es konnten ca. 80 Personen aus ganz Europa bei der Tagung begrüßt werden. Dabei nahmen die Referate diverser Bildungsexperten zur Zukunft des berufsbildenden Schulwesen und ihre Erfahrungen mit innovativen Lehrplanexperimenten breiten Raum ein. Der folgende Artikel fasst die wesentlichsten Aspekte dieser Tagung zusammen.

1) Die Kunden des berufsbildenden Schulwesens

In den letzten jahren finden vermehrt internationale Tagungen statt, die sich mit der Frage der Zukunft des berufsbildenden Schulwesens beschäftigen (siehe auch „Lehren und Lernen in 21. Jahrhundert“ von N. Bartos, in „Der Technologe“ 2/97, Seite 7-9, sowie in „PCNEWSedu“ 3/97, Seite 44-45). Dabei steht auch immer wieder die Frage im Vordergrund, wer der Kunde dieser Ausbildungsinstitutionen ist. Dabei sind die Meinungen noch immer divergierend. Sind es die Studierenden oder die Industrie? Bedenkt man, dass die wenigsten Neueinsteiger in den HTLs eine genaue Vorstellung von ihrem beruflichen Einsatz haben, so kann man annehmen, dass der Kunde eher die Industrie zu sein scheint. Aus dieser Ansicht folgt unmittelbar, dass man in Lehrerkreisen sehr gerne, jedoch unschön und in Anlehnung an die Prozesstechnik, vom „Schülermaterial“ spricht, das zu bearbeiten ist. Egal ob man nun zu dieser oder jener Sicht neigt, ist aber doch klar, dass die Industrie wesentlich das von den Absolventen zu erfüllende Profil bestimmt, sie ist daher auch entsprechend in die Gestaltung der Ausbildung einzubinden. Die Wünsche der Studierenden sind, je nach deren Reifegrad, jedoch durchaus auch berücksichtigenswert.

2) Verschiebung von Prioritäten

Betrachtet man Stellenausschreibungen von Firmen, so scheinen nicht nur technische Anforderungen gefragt zu sein, sondern es ist eine starke Nachfrage nach den sogenannten „Soft Qualifications“ wie Diplomatie, Kundenorientiertheit, Unabhängigkeit, Flexibilität, Mobilität, Bereitschaft zur lebenslangen Weiterbildung, Teamfähigkeit, Kooperationsbereitschaft und dgl. mehr zu bemerken. Kaum eine dieser Fähigkeiten ist jedoch in den Lehrplänen enthalten und es gibt auch keine geeigneten Lehrbücher für ein Selbststudium.

Man kann davon ausgehen, dass eine Verschiebung des Focus-of-Interest stattfinden wird müssen. Standardisation der Ausbildung wird übergehen in Individualisation, Zentralisation in Dezentralisation und große, hierarchisch organisierte Ausbildungsstätten werden in kleinere, autonom verwaltete Zentren zerfallen, welche als Profit Centers organisiert werden.

3) Curriculum-Entwicklung

Ein Curriculum darf keine Aufzählung unabhängiger Fachbereiche sein, es muss ganzheitlich gesehen werden. Kein Fachbereich ist als unwichtig zu betrachten, alle Fachbereiche ergänzen einander mosaikartig zu einer optimalen und zukunftsorientierten Ausbildung.

Die Curricula-Entwicklung muss weitestgehend durch aktive Lehrer erfolgen und soll nur einen Rahmen bilden, in dem genügend Freiraum für Individualität bleibt. Dieser Rahmen enthält auch die Kernbereiche der Ausbildung und muss weiterhin ministeriell verordnet werden. Dezentral werden dann, entsprechend den Erfordernissen der lokalen Industrie, die Detaillehrpläne jährlich neu festgelegt. Dadurch wurden in Dänemark die ursprünglich 350 ministeriell verordneten Ausbildungsrichtungen auf 80 eingeschränkt. Eine gewisse Durchlässigkeit bei ähnlichen Fachbereichen ist aber sicherzustellen, da beim Einstieg vielfach noch nicht klar ist, welche Spezialisierungsrichtung einige Jahre später vom Studierenden angestrebt werden wird.

Die vorher genannten Soft Qualifications müssen in alle Bereiche des Curriculums einfließen.

Ein wichtiger Aspekt ist damit auch der Praxisbezug eines Curriculums. In Dänemark wird beispielsweise das „Sandwich-Modell“ verwendet, welches Schulbetrieb und Praxisarbeit in Firmen semesterweise alternierend vorsieht. Essentiell, vor Allem für Österreich mit seinen vielen Kleinst- und Kleinbetrieben, ist die Vermittlung von Wissen zur Führung eines solchen Kleinbetriebes.

Ein wichtiger Aspekt sind auch die „Aussteiger“ aus den HTLs (dabei sind die „echten“ Aussteiger gemeint und nicht diejenigen, welche das erste HTL-Jahr als Polytechnikum „missbrauchen“ und genau wissen, dass sie nach einem Jahr aussteigen - sie verschlechtern nur die Ausstiegsbilanz der HTLs!). Vielfach gibt es in den alten Schulsystemen wie in Österreich nur zwei Möglichkeiten: ein Bestehen in fünf (oder bei Wiederholungen auch mehr) Jahren mit entsprechendem Zertifikat, oder ein vorzeitiges Verlassen (vielfach bereits mit Wiederholungen) ohne dieses Papier. Damit kann ein Schüler im ungünstigsten Fall in einer Schule sechs Jahre Ausbildung absolviert haben, ohne eine anerkannte Bescheinigung für eine eventuelle Anrechnung in einer anderen Schulform zu besitzen. Auch eine längere Pausierung in der Ausbildung (Karenz, Krankheit, berufliche Erfordernisse bei Abendschülern usw.) ist hier praktisch nicht möglich. Es ist daher anzustreben, die Ausbildung zu modularisieren (im HTL-Bereich wäre eine Teilung in 2+2+1 Jahr sinnvoll). Nach jedem Modul erhält der Schüler ein international anerkannten Zertifikat, das europaweit für andere Ausbildungen entsprechend anrechenbar ist.

4) Das zukünftige Berufsbild des Lehrers

Lehrer werden nicht nur Lehrende sondern auch Lernende sein. Ihre Aufgaben werden nicht mehr fest vorgegeben sein, sondern stark wechseln. Lehrer werden als Supervisor, Manager, Consultant, Inspirator und Motivator fungieren. Die Verantwortung für den Lernprozeß wird aber dann bei den Schülern selbst liegen. Je nach der geistigen Reife der Schüler wird diese Verantwortungsmenge natürlich unterschiedlich sein müssen. Als Folge ergibt sich, dass nicht der Weg des Lernens, sondern das Resultat des Lernprozesses kontrolliert werden muss. Es gibt viele Wege zum Erwerb von Wissen und jeder Schüler soll den Weg wählen, der ihm optimal erscheint. Der angemessene und sinnvolle Einsatz des Werkzeugs der Selbstevaluation („was habe ich heute gemacht“, „was habe ich heute gelernt“, „wie kann ich es morgen besser machen“) wird für alle (Schüler, Lehrer und Schulmanager) eine zentrale Bedeutung erhalten.

5) Die zukünftige Schule

Nach einem gemeinsamen Lehrplan frontal unterrichtete Klassen werden weitgehend durch Kleingruppen ersetzt, welche mehr Individualität in Bezug auf den fachlichen Inhalt und die Geschwindigkeit des Lernens erlauben. Durch die nur mehr partiell vorhandene Betreuung durch Lehrer kann die feste Stundeneinteilung entfallen und es dürfte dadurch auch keine Verteuerung entstehen. Es kommt damit zu einer Vermischung von berufstätigen und nicht berufstätigen Schülern, was sich äußerst positiv auswirken müsste. Die moderne Schule wird den größten Teil des Tages zugänglich sein (Open Area Education). Die Lehrer haben bestimmte Sprechstunden, in denen sie den Schülern bei Bedarf Hilfestellung bei der Lösung ihrer Probleme geben. Die Ausnutzung moderner Kommunikationsmittel ergibt sich dabei als zwingende Notwendigkeit (Distant Learning). Dass damit auch bauliche Änderungen einhergehen müssen ist selbstverständlich, wird aber oft wegen der damit verbundenen Kosten fälschlicherweise als wenig relevant angesehen. In den Unterrichtsräumen muss Theorie- und Praxisunterricht in den meisten Gegenständen möglich sein und wird zu einem großen Teil auch parallel gehalten. Theoretiker und Praktiker sind damit gleichwertige Partner, die einander ergänzen sollen und die auch voneinander lernen können.

Die Ausbildung wird stark modular organisiert sein, wobei die Module nicht von einander isoliert zu sehen sind und durchaus auch mehrere Semester dauern können. Zu Beginn des Studiums kann für jeden Schüler ein angemessener Pfad durch die Ausbildunglandschaft festgelegt werden und dient ihm als Richtlinie, welche aber durchaus verändert werden kann.

Weiters ist zu achten, dass keine unnötigen regionalen Ballungen von Schulen gleichen Typs entstehen, die einen Großteil ihrer Energie damit verschwenden, der Nachbarschule zu konkurrieren. Dadurch entsteht eine bessere Auslastung von Personal und Inventar.

6) Die Schule als Profit Center

Zumal vielfach die Industrie als Kunde der Schule angesehen wird und an optimal ausgebildeten Absolventen interessiert sein sollte, wird vermehrt eine externe Finanzierung anzustreben sein. Man wird vorhandene Marktlücken im Schulungsbereich verstärkt suchen müssen und diese durch spezifische Kursangebote zu schließen versuchen. Vergleicht man niederländische Schulen, welche derart organisiert sind, mit dem TGM, so ergibt sich für eine Schule dieser Größenordnung, dass ca. 15 Lehrer hauptberuflich nur für die Akquisition, Koordination und Administration des Profit Centers tätig sein müssen.

Marketingaktionen wird eine große Bedeutung zukommen. Dazu zählen Informationsabende für Firmen, Zugriff zu Firmen und ehemaligen Absolventen durch Direct Mailing, regelmäßige Presseaussendungen, Präsenz auf allen in Frage kommenden Messen und vieles mehr.

7) Einflüsse auf das Management

Die Ausbildung muss für die Zukunft erfolgen. Es sind daher die Trends, insbesonders durch die Schulmanager, sorgfältig zu beobachten. Der Zug zu einer radikalen Veränderung des Schulwesens ist bereits abgefahren. Es gilt daher, möglichst rasch, unbürokratisch und wirksam auf die neuen Anforderungen zu reagieren. Eine Schule kann es sich nicht leisten, diese Trends einfach zu ignorieren oder gar zu behindern. Sie würde dies langfristig nicht überleben.

Die Leitung der kleinen autonomen Schulzentren muss, ähnlich der Organisation der Fachhochschulen in Österreich, durch ein fünf bis zehn Personen umfassendes Kollegium geschehen, in dem Personen aus Schule und Industrie vertreten sind.

Die Administration, d.h. die Schulleitung bzw. das Ministerium, ist für die Schüler bzw. die Lehrenden da und nicht umgekehrt! Das Administrationspersonal soll die Lehrer bei der Ausübung ihrer Tätigkeit unterstützen. Ein mangelhaftes Eingehen des derzeitigen Schulmanagements auf die geänderte Bildungslandschaft, muss dann zwangsweise auch zu einem Austausch dieses Managements führen. In den Niederlanden arbeiten 9 von 10 Schulmanagern mittlerweile in einer gänzlich anderen Organisationsform als vor zwei Jahren. Frühpensionierungen waren ebenfalls recht häufig.

Ein niederländischer Sprecher hat das wesentliche Ziel einer zukünftigen Schule prägnant zusammengefasst: „Focused on the market and the future“. Diese Umstellung wird aber voraussichtlich zwei bis drei Jahrzehnte in Anspruch nehmen.

8) Ansätze zur „Neuen Schule“ am TGM

In diesem Teil möchte der Autor abschließendkurz in Faktenform noch einige Hinweise geben, inwieweit in seinem Bereich (TGM, Abteilung Elektronik, Gruppe Speziallehrgänge) diesen Trends Rechnung getragen wird: