Kurzgeschichte

Brief aus dem Nichts

Florian Schütz

Bin gerade aufgestanden und habe mir gedacht, daß ich das besser aufschreibe, damit ich kein Detail vergesse.

Dieser Zustand wird hoffentlich bald wieder vorbei sein, aber falls nicht könnte dieser Brief einem Nervenarzt helfen, meine mögliche Krankheit zu erkennen und entsprechend zu behandeln.

Also....ich bin vor einigen Minuten aufgewacht (zu einer genaueren Zeitangabe bin ich leider nicht fähig; weshalb dem so ist, schreibe ich Dir später.) Ich wache also auf und mein Zimmer ist mir fremd, oder vielmehr teilweise fremd.

Erschreckend ist vorallem, daß es mir von Minute zu Minute fremder wird. Ich weiß, daß es mein Zimmer ist, aber Teile kommen mir völlig unbekannt vor. Fremd. Ich glaube, die Realität entgleitet mir.

Begonnen hat es damit, daß ich mich knapp nach dem Erwachen über den Zweck einer Kiste mit einem Glasfenster auf einer Seite wunderte. Ich spielte mich mit diversen Knöpfen, die auf dieser Schachtel angebracht sind. Obwohl ich sicher weiß, daß ich diese Kiste ziemlich oft verwendet habe, ist mir ihre Funktion komplett entfallen und bis jetzt habe ich nicht zu durchschauen vermocht, wofür dieses Ding gut wäre. Wenn Du hier wärest, könntest Du mich sicher über die Funktion aufklären. Seltsam ist auch, daß es in dem gleichen (meinem?) Zimmer nicht eine, sondern zwei Kisten dieser Art gibt. Die zweite hat im Gegensatz zur ersten noch eine kleine Schachtel davor, die die Buchstaben des Alphabets auf kleinen Knöpfen abgebildet hat.

Vielleicht hilft Dir zu einem besseren Verständnis ein Namenszug auf der zweiten Kiste: IBM

Bei einem anderen Gerät erinnerte ich mich an den Namen:

„Plattendreher“ oder so ähnlich. Wenn Du das jetzt liest, wirst Du sicherlich genau wissen, welchen Apparat, ich meine. Leider ist außer dem Namen nichts von dem Verwendungszweck in meinem Gehirn haften geblieben. Seltsam, wirklich seltsam.

Ich bin sicher, daß ich gestern noch wußte, wofür diese verdammten Apparillos zu gebrauchen wären.

Stell Dir vor, bloß eine Nacht geschlafen und dann weg, plötzlich weg. Gedächtnisschwund.

Es ist so, als ob in dem Dings in meinem Kopf- jetzt fällt mir das Wort wieder ein: „Gehirn“- ein Kurzschluß entstanden wäre. Eine teilweise Löschung der Informationen.

Ich wünschte, Du wärest da. Irgendwie befällt mich doch Angst, daß der Zustand anhalten könnte.

Als ich Dir vorher die Zeit mitteilen wollte, konnte ich es nicht. Die Uhr vor mir ist ein unvorstellbares Rätsel geworden. Irr dreht sich ein Zeiger einher, der zweite scheint zu stehen, (dreht sich aber bei näherem Hinsehen extrem langsam) und der dritte steht gänzlich still. In Erinnerung ist mir geblieben, daß man mit Hilfe dieses Instruments die Größe bestimmen kann, die uns Menschen sagt, wann etwas passiert. Wie das aber funktionieren soll, ist mir völlig schleierhaft.

Mach’ Dir bitte keine Sorgen, es ist ja nicht so, daß ich Schmerzen hätte. Nein, das überhaupt nicht. Es fühlt sich vielmehr so an, als ob ich ausrinnen würde - leer würde.

Es ist so, als ob alles farblos würde, blasser, leiser...

Vorher glaubte ich Musik aus dem Radio zu hören. Sie ist auch leiser geworden und ist jetzt völlig weg. Ich schätze, daß auch das nur in meinem Kopf stattgefunden hat. Wahrscheinlich sitze ich hier bei dröhnender Musik und schreibe Dir.

Gerade sehe ich ein Hochzeitsbild und frage mich, ob Du die Braut bist. Genau kann ich das nicht sagen, weil ich nicht einmal sicher weiß, ob ich der Bräutigam bin. Ich nehme an, daß wir das sind. Vorausgesetzt das ist mein Zimmer, könnte man davon ausgehen, daß diese Photographie auf unserer Hochzeit aufgenommen wurde, denn, so sage ich mir, in meinem Zimmer stelle ich mir doch nicht Hochzeitsbilder von fremden Menschen auf.

Es kommt mir vor, als ob mir die Wirklichkeit entgleiten würde...

Eigentlich nicht nur die Wirklichkeit sondern auch die Unwirklichkeit. Denn alles verschwindet, nichts bleibt zurück. Es wird leer um mich.

Ich hoffe Du findest mich nicht als hohles Wrack, als starres, glotzendes Etwas. Du könntest ja nicht einmal mit mir Kontakt aufnehmen, weil mein Gehör ja auch nicht mehr funktioniert.

Aber wahrscheinlich ist dieser seltsame Zustand ohnedies wieder vorüber, ehe Du nach Hause kommst. Vielleicht ist es ja nur eine kurzfristige geistige Schwäche, nichts Ernstes. Es ist ja wohl kaum möglich, daß mir der Verstand so plötzlich abhandenkommt.

In dem Raum kenne ich mich bald überhaupt nicht mehr aus. Es gibt kaum einen Gegenstand, den ich einer logischen Funktion zuordnen könnte. Hinzu kommt, daß ich alles wie durch eine Milchsuppe sehe.

Verschwommen, blaß, unklar...

Einzig das Papier vor meiner Nase nehme ich noch klar war. Als hellen Punkt, als Anker, der mich noch in der normalen Welt hält.

Eigentlich sind nur noch ich und das weiße Blatt Papier da. Und die Zeichen, die ich kritzle. Im Moment des Schreibens weiß ich, was die Buchstaben bedeuten, aber gleich darauf verschwinden sie in der Milchsuppe. Seltsam ist auch das Zeichenmalgerät. Es ist wohl das Letzte, was ich von der normalen Welt wahrnehme. Das Zeichenmalgerät hält Kontakt, schreibt und schreibt. Es durchfährt reinstes Weiß, malt seine Buchstaben auf den Zettel irgendwo hinter der Milchbrühe.

Nur das Zeichenmaldings und ich.

Nur ich.

Ich.