Margarete Maurer
margarete.maurer@univie.ac.at
Wissenschaft
Lise Meitner
http://iguwnext.tuwien.ac.at/~rli/
»Das Leben muss nicht leicht sein,Lise Meitners Weg zur Entdeckung der Kernspaltung1
Margarete Maurer
Von Lise Meitner wissen wir, dass ihr die
Probleme der Frauen in der Wissenschaft
in ihrer Bedeutung und ihrem vollen Aus-
maß erst sehr spät bewusst geworden
sind, obwohl sie davon direkt betroffen
gewesen war. Immerhin nahm sie als be-
reits über Achtzigjährige in einem Vortrag
in den USA unter dem Titel »The Status of
Women in the Professions« (publiziert
1960) ausführlich und kenntnisreich zu
diesen Fragen Stellung.2 In ihrem auto-
biographischen wissenschaftlichen Be-
richt »Looking Back« von 1964 schildert
Lise Meitner hingegen nur einige diesbe-
zügliche Episoden.3 Einige Jahre früher,
1953, hatte Meitner in einem Rundfunk-
interview erklärt, sie habe »sehr wenig
über die Entwicklung der Frauenbewe-
gung gewusst«, und dies so erläutert:
»Natürlich hatte ich das eine oder andere
über die Frauenfrage gelesen. Aber ich
glaubte nicht, dass etwa ein Buch wie
»Der physiologische Schwachsinn des
Weibes« von Moebius, obwohl es von
1900 bis 1920 in zwölf Auflagen heraus-
kam, ... ernst genommen und widerlegt
werden musste. Später habe ich begrif-
fen, wie irrtümlich diese meine Auffas-
sung war und wie viel Dank speziell jede
in einem geistigen Gebiet tätige Frau den
Frauen schuldig ist, die um die Gleichbe-
rechtigung kämpfen.«4 Dass sie erst spät
zu dieser Einsicht gekommen ist, erklärte
sie selbst mit »den besonders glücklichen
Umständen« in ihrer wissenschaftlichen
Entwicklung. Damit kann sie nur die ers-
ten Jahre in Wien und Berlin gemeint ha-
ben, denn ihre Forschungstätigkeit erlitt
einen heftigen Bruch, als sie 1938 durch
die Politik der Nationalsozialisten sehr ge-
fährdet war und nach Schweden emi-
grierte. Heute wird anerkannt, dass sie
trotz der äußerst schwierigen Umstände
an der Entdeckung der Kernspaltung kurz
nach der Flucht entscheidenden Anteil
hatte. Der Umgang mit Meitners Leistung
von Seiten der Beteiligten und der Mit-
und Nachwelt stellt ein eigenes Lehrstück
dar. Der folgende Beitrag zu Lise Meit-
ners Biographie beleuchtet diese Ent-
wicklung, in der es auch um die Stellung
zum Nationalsozialismus und zur Atom-
bombe geht.
Elise (später Lise) Meitner wurde am 17.
November 1878 als drittes von acht Kin-
dern des Ehepaares Hedwig Meitner und
Dr. Philipp Meitner, beruflich Rechtsan-
walt, in Wien geboren. Die Eltern, beide
halbjüdischer Herkunft und im katholi-
schen Österreich lebend, erzogen ihre
Kinder in protestantischem Geiste. Das
familiäre Klima war von Toleranz und Li-
beralismus geprägt; Kunst und Literatur
wurde den Kindern früh nahegebracht.
Sehr früh auch war Elise Meitner faszi-
niert von naturwissenschaftlich interes-
santen Erscheinungen wie zum Beispiel
dem Farbenspiel einer öligen Wasser-
pfütze. Ihre wissbegierigen Fragen zu sol-
chen Phänomenen fanden in der Familie
Gehör und wurden beantwortet; so er-
mutigt wollte sie zusehends mehr den
Dingen »auf den Grund gehen«.
Die große Unterstützung von Seiten der
Familie bildete ein wichtiges Gegenge-
wicht zur damaligen frauenfeindlichen
Situation im höheren Bildungswesen.
Denn als Elise Meitner geboren wurde,
gab es noch keine Mädchengymnasien -
sie wurden erst in den neunziger Jahren
geschaffen. Seit 1872 war zwar die Able-
gung der Reifeprüfung an einer Knaben-
schule (als »Externe«) möglich, aber noch
ohne die Reifeklausel, die zum Besuch
von Vorlesungen berechtigte. Die Maturi-
tätsprüfung für Frauen wurde 1896 mög-
lich, ab 1897 auch mit der notwendigen
Klausel »Reif zum Besuch einer Universi-
tät«. Ebenfalls im Jahr 1897 wurden
Frauen zum Universitätsstudium - zu-
nächst an den philosophischen Fakultä-
ten Österreichs, zu welchen damals die
Naturwissenschaften gehörten - als or-
dentliche Universitätshörerinnen zuge-
lassen. Pharmazie und Medizin sollten
1900 folgen, die juridische Fakultät und
die technische Hochschule aber erst
1919.
Ihre Eltern glaubten an Elises Fähigkeiten
und förderten ihre Pläne, Naturwissen-
schaftlerin zu werden. Es wurde gemein-
sam beschlossen, sie solle zuerst Franzö-
sischlehrerin werden, um damit eine be-
rufliche Absicherung zu haben, und da-
nach die externe Matura ablegen.
1901 fast 23jährig begann Meitner ihr
Studium, Physik und Mathematik an der
Universität Wien. Bald war sie von dem
theoretischen Physiker Ludwig Boltz-
mann5 begeistert, der ihr mit seinem leb-
haften und fesselnden Vortrag »eine ganz
neue und wunderbare Welt eröffnet(e)« -
eine Welt, die sie bis ins hohe Alter faszi-
nieren sollte. 1906, im Todesjahr Boltz-
manns, promovierte sie - als zweite Phy-
sikerin und als vierte Doktorin der Wiener
Universität überhaupt - bei Franz Exner6
mit einer Dissertation über Wärmeleitung
im inhomogenen Körper. In dieser Arbeit
überprüfte sie auf experimentellem Wege
eine Formel des Mathematikers James
Clerk Maxwell (1831-1879), die dieser
für die Leitung der Elektrizität in inhomo-
genen Körpern abgeleitet hatte, und die
sie nun als auch für die Wärmeleitung
geltend nachweisen konnte.7 Vier Mona-
te später erschien bereits ihre erste »ra-
dioaktive« experimentelle Arbeit über die
Absorption von Alpha- und Betastrahlen
in verschiedenen Metallfolien. Das Ar-
beitsgebiet der Radioaktivität sollte zum
lebenslangen Schwerpunkt ihres wissen-
schaftliches Interesses werden.
1907 ging Lise Meitner nach Berlin, um
bei Max Planck8 weiter theoretische Phy-
sik zu studieren - nach ihrem ursprüngli-
chen Plan nur für ein einziges Jahr. Doch
sie sollte bleiben, bis die Politik der Natio-
nalsozialisten sie vertreiben würde. Ob-
wohl Max Planck die akademische Tätig-
keit von Frauen prinzipiell für »naturwid-
rig« hielt, war er bereit, eine Ausnahme
zu machen und unterstützte Meitner
schließlich sehr - er sollte sie später
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PCNEWS-63 Juni 1999 |
Margarete Maurer margarete.maurer@univie.ac.at http://iguwnext.tuwien.ac.at/~rli/ |
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Lise Meitner |
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Lise Meitner (1878-1968) in den dreißi-
ger Jahren fotografiert von ihrer Schwä-
gerin Lotte Meitner-Graf in Wien. Archiv
des Churchil College, Cambridge