Abb.: MPI für
Entwicklungsbiologie, Tübingen
Christiane Nüsslein-Volhard
Geboren am 20. Oktober 1942 in Magdeburg; 1962–1964 Studium der Biologie, Physik und Chemie an der Universität Frankfurt/M., 1964-1968 Biochemiediplomstudium an der Universität Tübingen, 1969-1974 Max-Planck-Institut für Virusforschung in Tübingen und 1973 Promotion zur Dr. rer.nat in Biologie (Genetik), 1978-1980 Gruppenleiterin am European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg, 1981-1985 Gruppenleiterin im Friedrich-Miescher-Laboratorium der Max-Planck-Gesellschaft in Tübingen, seit 1985 Wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft und Direktorin der Abteilung III (Genetik) am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen sowie Universitätsprofessorin an der Universität Tübingen, zahlreiche Preise und Auszeichnungen, Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 1995, geschieden, keine Kinder.
Von Oliver Hochadel[1]
O. H.: Sehr geehrte Frau Prof. Nüsslein-Volhard, die Unterrepräsentanz von Frauen in der Wissenschaft – und hier vor allem in den Naturwissenschaften – gilt gemeinhin als Mißstand. Sind Affirmative Actions im Sinne einer bevorzugten Einstellung von Frauen Ihrer Meinung nach erfolgversprechend? Sie haben es auch auf »normalem« Wege »geschafft«.
C. N.: Außer mir gibt es natürlich noch eine Reihe von anderen Frauen, die es ohne Affirmative Actions »geschafft« haben. Es wäre auch sehr schön, wenn es ohne solche ginge. Meiner Einschätzung nach ist aber nichts so entscheidend für einen Anstieg des Frauenanteils wie dieser selbst. Mit anderen Worten: Wenn mehr Frauen in der Wissenschaft wären, würde auch die Zuwachsrate im Sinne einer Autokatalyse, das heißt der Beschleunigung einer Reaktion durch einen Stoff, der während dieser Reaktion entsteht, zunehmen. Daher sind einmalige Affirmative Actions, obwohl ein wenig diskriminierend, im Resultat doch gut und notwendig.
O. H.: Evelyn Fox Keller[2] sagt in einem Interview mit »heureka!«[3], daß Sie von US-amerikanischen Wissenschaftlerinnen wie eine Heldin verehrt würden, während Sie in Deutschland für Feministinnen sogar eine »Feindin« seien, nur weil Sie eine erfolgreiche Naturwissenschaftlerin seien. Trifft dies zu?
C. N.: Fox Keller hat recht. Das liegt wohl an der generell höheren Wissenschaftsfeindlichkeit im deutschsprachigen Raum. Automatisch wird angenommen, daß eine Frau, die erfolgreich in diesem Beruf ist, furchtbar viel arbeitet, verspannt und hart ist und ihre Mitarbeiter ausbeutet, ohne überhaupt hinzusehen. Feministinnen in Deutschland können sich oft nicht vorstellen, daß Wissenschaft, also Erkenntnisgewinn, Spaß macht und daß das Interesse an der Natur ganz unabhängig von menschlichen Qualitäten und anderen Interessen ist.
O. H.: Die Soziologin Beate Krais[4] hat für die Max-Planck-Gesellschaft (MPG)[5] eine Studie über die Unterrepräsentanz von Frauen in der MPG selbst erstellt. Wie würden Sie als Direktorin die Lage der Frauen dort einschätzen?
C. N.: Leider gibt es zuwenig Frauen in den höheren Positionen, und es ist nicht zu übersehen, daß auch bei dem sehr hohen Qualitätsanspruch, den die MPG hat, der Prozentsatz niedriger ist als an vergleichbaren Einrichtungen z.B. in den USA. Das liegt zum Teil an dem negativen Image der Wissenschaftlerin, das Frauen eher davon abschreckt, diese Laufbahn einzuschlagen (es gibt daher wenig Kandidatinnen für solche Jobs), aber auch daran, daß, wie wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt haben, bei gleicher Leistung die Kompetenz von Frauen häufig und unbewußt geringer eingestuft wird als die von Männern. Mit anderen Worten: Man traut’s ihnen nicht so leicht zu.
Gleichwohl gibt es Fächer in den Naturwissenschaften, Entwicklungsbiologie zum Beispiel oder auch Genetik und Embryologie[6], in denen sehr viele Frauen vertreten sind, wenigstens in den USA. Das liegt wohl auch an dem größeren Interesse, das Frauen an diesen Themen haben.
»Sie gilt als schwierig«, meint die »Zeit«. »Zielstrebig« sei sie, findet der »Kölner Stadtanzeiger«, »unkonventionell, mutig und etwas spröde«. Und der »Express« weiß, daß sie »sehr ehrgeizig« ist – Charakterzüge, die bei Männern quasi natürlich und kaum erwähnenswert sind, fallen bei Frauen eben auf. Schon gar, wenn sie mit der höchsten Auszeichnung geehrt werden, die die Weltgemeinschaft an herausragende Wissenschaftler zu vergeben hat – und in Ausnahmefällen auch mal an eine Wissenschaftlerin: Die zweiundfünfzigjährige Biochemikerin Christiane Nüsslein-Volhard wird am 10. Dezember [1995] in Stockholm als erste deutsche Frau – und als fünfte Frau in der Menschheitsgeschichte – den Nobelpreis[8] für Medizin entgegennehmen! Verliehen für ihre Entdeckungen »auf dem Gebiet der genetischen Steuerung der frühen embryonalen Entwicklung«.
Gemeinsam mit ihrem amerikanischen Kollegen Wieschaus[9] hat die Biochemikerin zwanzigtausend Fruchtfliegen (Drosophila) erforscht und ist seither in der Branche als die »Herrin der Fliegen« bekannt. Woher »weiß« das Ei, daß aus ihm eine Made (bzw. ein Embryo) werden soll? Und woher die Made (bzw. ein Embryo), wo die Gliedmaßen und Organe der späteren Fliege (bzw. des Menschen) sitzen müssen? Nach diesem letzten großen Geheimnis des Lebens fragte Nüsslein-Volhard und fand zusammen mit ihren Kollegen heraus, daß es die Gene sind, die diese Entwicklung steuern, und daß diese Gene wiederum von vier »Signalsubstanzen« in der mütterlichen Eizelle gesteuert werden. Diese Signale dirigieren den »Bauplan« bzw. das »Muster«, das im Prinzip in jeder Körperzelle – bei Tier wie Mensch – gleich ist. Die Tübinger Forscherin untersuchte vor allem mutierte Fliegen und gewann dabei »substantielle Erkenntnisse über die Entstehung von Mißbildungen«, lobt die Stockholmer Jury. So ist es vielleicht eines Tages der »Herrin der Fliegen« zu verdanken, daß Fehlbildungen an menschlichen Embryonen rechtzeitig erkannt und behandelt werden können.
Geboren wurde Christiane Nüsslein (die von Herrn Volhard geschieden ist) 1943 in Magdeburg. In Frankfurt wuchs sie auf, zusammen mit drei Schwestern und einem Bruder, als Enkelin einer Malerin und Tochter eines Architekten. Ihr »anbetungswürdiger Vater« hatte nichts dagegen, daß die kleine Christiane schon mit zwölf entschied, Naturwissenschaftlerin zu werden. In Frankfurt und Tübingen studierte die heutige Direktorin des Tübinger Max-Planck-Instituts für Entwicklungsbiologie zunächst Biologie, dann zusätzlich Physik und Biochemie.
Die Hochbegabte promovierte mit Auszeichnung, doch ihre Karriere verlief trotzdem nicht glatt. Der Göttinger Professor Herbert Jäckle[10], »ein alter Weggefährte«: »ein Mann hätte schon fünf oder sechst Jahre früher eine feste Stelle gehabt«. Sie bekam ihre – nach langen Wanderjahren – mit zweiundvierzig Jahren bei der Max-Planck-Gesellschaft (MPG). Bei der ersten Jahreshauptversammlung wurde der weibliche Direktor prompt zum »Damenprogramm« für Gattinnen eingeladen. Inzwischen geizt man nicht mehr mit Meriten für die Forscherin, die im Labor »mit Vorliebe« Jeans trägt und in ihrer Freizeit »mit Leidenschaft« kocht. In den letzten zehn Jahren heimste sie siebenundzwanzig Wissenschaftspreise ein, auch das Bundesverdienstkreuz wurde ihr angesteckt, sie ist Mitglied der ehrwürdigen Londoner Royal Society[11] und Ehrendoktorin in Utrecht, Princeton und Yale. Ja, sie hat es geschafft, die Fachmänner liegen ihr zu Füßen. Trotzdem hat die Max-Planck-Direktorin die Frauen nicht vergessen. Ihr ist sehr bewußt, daß von zweihundert Direktoren der Max-Planck-Gesellschaft nur vier weiblich sind.
Deshalb hielt Nüsslein-Volhard 1991 ein Referat »Zur Situation der Wissenschaftlerinnen in der MPG« und fragte, warum Frauen in der Wissenschaft so selten Karriere machen. »Ein wichtiger Grund scheint mir zu sein, daß Frauen häufiger unter schwachem Selbstbewußtsein leiden und weniger aggressiv sind als Männer. Frauen geben Fehler und Unsicherheiten häufiger zu, was sich negativ auf ihr Image auswirkt«, befand sie. Die kinderlose Direktorin appellierte ganz selbstverständlich an die Max-Planck-Gesellschaft, »beim nächsten Mal, statt eines Flügels für den Seminarraum oder eines neuen Stipendiums oder Preises für Nachwuchswissenschaftler, an den Instituten Kindertagesstätten zu errichten«.
Die neue Nobelpreisträgerin legt als Doktorinnen-Mutter Wert darauf, ihre »Töchter gut ausgestattet aus dem Haus« zu schicken. Denn sie weiß genau, daß es »anstrengend« ist, »eine Ausnahme, die Erste und Einzige zu sein«. Vor vier Jahren träumte Nüsslein-Volhard: »Es wäre gut, wenn es in der Wissenschaft mehr Frauen als Vorbilder gäbe«. Spätestens jetzt ist die Frau mit dem klaren, offenen Blick, aus dem eine fast kindliche Freude am Erobern und Entdecken strahlt, selbst so ein Vorbild. Und was für eins!
Quellen: Auswahlliste von 40 Arbeiten durch Christiane Nüßlein-Volhard selbst, 2001).
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Ausführliche Autobiographie
Christiane Nüsslein-Volhard
http://www.nobel.se/medicine/laureates/1995/nusslein-volhard-autobio.html
Curriculum vitae
(Lebenslauf ) Christiane Nüsslein-Volhards
http://www.nobel.se/medicine/laureates/1995/nusslein-volhard-cv.html
Darstellung der mit dem
Nobelpreis gewürdigten Arbeit/en
http://www.nobel.se/medicine/laureates/1995/illpres/index.html
http://www.nobel.se/medicine/laureates/1995/illpres/nuss-wiesch.html
Institutsseite ihres MPI in
Tübingen, mit Photo Prof. Nüsslein-Volhards
und Liste der Publikationen und
Forschungsprojekte ihrer Abteilung »Genetik«
http://www.eb.tuebingen.mpg.de/abt.3/
MPG-Webseite
http://www.mpg.de/
Nobel-Komitee-Web-Seite
http://www.nobel.se/laureates/medicine~1995.html
Liste der Namen aller Nobelpreisträgerinnen
http://almaz.com/nobel/women.html
Nähere Informationen zu einzelnen Nobelpreisträgerinnen
(englisch)
http://www.nobel.se
[11] Älteste wissenschaftliche Gesellschaft des United Kingdom und eine der ältesten in Europa. Gegründet 1660. VorläuferInnen: kleine informelle Diskussionszirkel mit regelmäßigen Treffen über wissenschaftliche Fragen; die »unsichtbaren Kollegien« von London und Oxford sowie eine Reihe kleiner Akademien wurden in die Royal Society integriert.