Prix Ars Electronica – CyberArts 2002

 

Seit Jahrzehnten arbeiten Künstler und Wissenschafter im digitalen Medienbereich daran, eine eigenständige Inhalts- und Formensprache zu entwickeln. Und heute sehen wir, dass sowohl die Wissenschaften, als auch Pop- und Alltagskultur in unterschiedlichen Ansätzen eine kulturformende und gesellschaftsrelevante Rolle übernommen haben. Das Buch zum Prix Ars Electronica 2002 stellt eine Auswahl der besten von 2.400 eingereichten Werken vor (Hannes Leopoldseder / Christine Schöpf, PRIXARS ELECTRONICA 2002 CyberArts, ISBN 3-7757-1208-9, 250 Seiten).

 

Das Festival Ars Electronica hat sich nicht nur als Ort der Präsentation zeitgenössischer Entwicklungen in der Kunst, sondern auch als Ort der Bewertung etabliert. Der Prix Ars Electronica liefert Jahr für Jahr den Beweis für den unaufhaltsamen Vormarsch der digitalen Medien in den Mainstream des zeitgenössischen Kunstgeschehens. Das Buch dokumentiert eine Auswahl aktueller Arbeiten aus den Bereichen Interaktivität, Animation und digitale Musik und widmet ein abschließendes Kapitel der Cybergenaration - jugendlichen Nachwuchstalenten unter 19 Jahren.

 

Die Entwicklung der Computeranimation im Film kann Schritt für Schritt historisch durch die Prämierungen beim Prix Ars Electronica nachvollzogen werden. War es bei der Premiere des Prix Ars Electronica 1987 die emotionale Komponente bei Luxo Jr. von John Lasseter - einem Werk, das ihm die Goldene Nica beim Prix Ars Electronica und die erste Oscarnominierung für Computeranimation einbrachte -, so überzeugt 15 Jahre später Monsters Inc. von Pete Docter (ebenfalls Pixar Animation Studios) abermals mit emotionalen Momenten in einer Qualität, wie sie nach Ansicht der Jury in der Computeranimation bisher noch nie zum Ausdruck gekommen sind. Diese Kontinuität deutet darauf hin, dass sich das quantitative Volumen der vollkommen computeranimierten Filmproduktion ausweitet und in durchaus absehbarer Zeit einen Großteil des Gesamtvolumens ausmachen kann.

 

In der Interaktiven Kunst liefert der Prix Ars Electronica mehr und mehr den Beweis für das radikale Vordringen multimedialer Installationen im zeitgenössischen Ausstellungsgeschehen, aber auch in Open-Air-Projekten wie Body Movies von Rafael Lozano-Hemmer: Das Werk wurde im öffentlichen Raum beim V2-Festival in Rotterdam präsentiert und baut auf der Grundidee des Schattenspiels auf. Die Mitspieler interagieren mittels ihrer Schatten, die auf die große Fassade eines am Platz stehenden Gebäudes projiziert werden. Aber die Mitspieler sehen nicht nur ihre eigenen Schatten und jene der anderen aktiven Mitwirkenden, sondern auch projizierte Bilder von aufgezeichneten Usern. Manche Schatten er scheinen groß, andere kleiner. Dieser Unterschied im Maßstab löst automatisch ein sehr unterhaltsames Machtspiel beim teilnehmenden Publikum aus, wobei jene mit größeren Schatten häufig versuchen, sich die kleineren gefügig zu machen oder, umgekehrt, mit den kleinen Schatten die großen zu provozieren.

In seiner geschickten technischen Umsetzung verwendet Rafael nicht nur die Schatten der aktuellen Mitwirkenden für die Interaktion, er bringt auch aufgezeichnete Bilder von früheren Teilnehmern ins Spiel, Bilder, die erst sichtbar werden, wenn der jetzige Mitspieler seine Schattenform jener des ehemaligen Users anpasst.

Die Methode, die hochauflösende Projektion der Aufzeichnung mit hellem Licht zu überdecken, das der Mitspieler jedoch mit seinem Körper abfangen kann, schafft ein einfaches, aber dennoch raffiniertes Interaktions-Szenarium. Die User können die Bilder früherer User durch ihr eigenes Schattenspiel wieder zum Leben erwecken. Sie können die Größe des eigenen Schattens beeinflussen, aber vor allem werden sie vom Potenzial ihrer dunklen Negativform inspiriert, die als Schattenriss ein Bild ans Licht bringt.

Die Einfachheit und Eleganz dieses Interfaces erlaubt es den Usern, ihre eigenen Interaktionen zu erfinden; durch simples Bewegen und Herumspielen mit den eigenen und fremden Schatten und Bildern erfolgt ein spontaner Austausch zwischen einander völlig unbekannten Personen. Es gibt genügend Feedback, das dem User sagt, was er tun soll, dennoch schaffen die Unvorhersehbarkeit des nächsten Ereignisses und die Frage, wer wohl als nächster ins Spiel eingreifen wird, ein offenes System, das dem Sinn des Publikums für Improvisation ebenso Rechnung trägt wie dem Spieltrieb und der Neugier auf Zufallsbekanntschaften eine elegante, leicht fassliche und höchst unterhaltsame Form sozialer Kunst.

 

In den letzten zehn bis zwölf Jahren hat sich die interaktive Kunst langsam etabliert. Während Künstler Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre noch mit einer in den Kinderschuhen steckenden Technologie zu kämpfen hatten und folglich viele von ihnen Software und Interfaces selbst entwickeln mussten, steht heutzutage eine große Palette von Hard- und Softwarelösungen zur Schaffung interaktiver Erfahrungsumgebungen zur Verfügung. Dennoch hatten die ersten „interaktiven Künstler" den Vorteil, jede Menge Neuland vor sich zu finden, und sie haben auf diesem jungfräulichen Boden je nach ihren individuellen Interessen und künstlerischen wie technischen Visionen ihre eigenen künstlerischen Untersuchungen betrieben.

Viele dieser Leute der ersten Stunde sind heute als die Pioniere der Kunstgattung anerkannt, und ihre Werke werden gerne als Maßstab genutzt, an dem sich neuere Arbeiten zu messen haben.

Auf der anderen Seite hat die wachsende Akzeptanz und Institutionalisierung von Interaktivität und interaktiver Kunst im akademischen wie im Forschungsbereich jüngeren Künstlern geholfen, dieses Gebiet für sich zu erobern. Und sicherlich haben auch die kommerziell erhältlichen Hard- und Softwarepakete die Etablierung von Standards in der interaktiven Kunst zusätzlich gefördert.

 

Der bisher kaum vorstellbare Wachstumsschub des Internets lässt dementsprechend Net Vision und Net Excellence des Prix Ars Electronica konsequenterweise als die Zukunftskategorien erscheinen. Mit der Einführung der Internetkategorie 1995 liefert Ars Electronica neuerlich als Festival die Bestätigung dafür, dass es zu einem frühen Zeitpunkt erfolgreich auf neue Entwicklungen gesetzt hat.

 

Die Preisträger in der Internetkategorie zeigen deutlich das gesamte Spektrum dieses Mediums - wie die gesellschaftskritische Ausrichtung von They Rule (Josh On, Futurefarmers, USA), ein beispielhaftes Projekt, das das Beziehungsgeflecht zwischen den einflussreichen wirtschaftlichen Führungskräften zeigt, während Carnivore der Künstlergruppe RSG (Radical Software Group, USA) den Datenfluss veranschaulicht:

In einer hoch technisierten Welt ist das Alltagsleben von Daten übersättigt. Wenn auch viele dieser Informationen stets evident sind, so bleiben doch die eigentlichen Daten dahinter verborgen. Es stellt sich die Frage: Wie sehen Daten eigentlich aus? Eine Antwort darauf gibt Carnivore, eine neue Installationsarbeit für Datennetze.

Inspiriert vom gleichnamigen FBI-Programm, zapft Carnivore elektronisch die Leitungen am Installationsort an. Aus den angezapften Leitungen quillt ein Strom von Rohdaten, der alle Emails, Web- und andere Aktivitäten des jeweiligen physischen Ortes enthält. Dieser Datenstrom wird in eine Serie von künstlerisch gestalteten Interfaces zwecks Visualisierung und Animation eingespeist. Nachdem keine zwei Datennetze gleich sind, bildet Carnivore die „Persönlichkeit“ des jeweiligen Installationsortes ab. In einem Bürogebäude etwa reagiert Carnivore wie ein lebender Organismus auf die Handlungen eines jeden Mitarbeiters bei der Arbeit, in einem Cybercafé verfolgt Carnivore die Bewegungen eines jeden Kunden beim Surfen im Netz und beim Abrufen der Emails. Die Zuseher erleben Carnivore über Videoprojektion und in Computer-Kiosken mit. Jede Projektion bzw. jeder Kiosk eröffnet ein anderes „Fenster“ auf den Datenstrom. Internet-User können den Fluss der Daten auch mithilfe spezieller Java-Applets und Flash-Movies über das Netz verfolgen.

Lesen Hacker Ihre Email? Werden Ihre persönlichen demografischen Daten im Netz angeboten und verkauft? Carnivore testet Ihr Verständnis von öffentlicher und privater Sphäre. Es geht über eine Parodie seines FBI-Vorgängers hinaus: Carnivore betritt Neuland, indem es Daten öffentlich macht, die bisher dem Publikum verborgen waren. Carnivore kehrt das konventionelle Wissen über Datenschutz um, indem der extremste unter den möglichen Ansätzen - vollständige Überwachung - zur Schaffung einer neuen Form von öffentlicher Kunst im Netz gewählt wird.

 

Wie Kunst in einer mediatisierten und digitalisierten Welt wirksam wird und wie sie unter Anwendung veränderter Strategien neue Orte – wie das Internet – besetzen kann, beweisen alljährlich viele Einreichungen zum Prix Ars Electronica. Als Ergänzung zum Buch ist eine Videokassette PRIXARS erschienen, die insgesamt 11 Beispiele aus den Sparten Computeranimation und interaktive Kunst zeigt (Hrsg. ORF/Oberösterreich, Ars Electronica Center und TELEKOM Austria).