Konstruktivismus ein Allheilmittel?
Kritische Bemerkungen zu einem neuen didaktischen Konzept
Gruppe Or-Om http://or-om.org

Vorbemerkung

Nehmen wir einmal an, ein Mensch würde zum Unterschied von seinen Zeitgenossen 500 Jahre ununterbrochen leben und könnte daher die Entwicklungen von etwa 8 Generationen auf der Erde, vor allen die verschiedenen Theorien verfolgen, die in der Wissenschaft erstellt, verdrängt, verworfen und durch andere ersetzt werden, so würde ihm vor allem folgende Erscheinung auffallen. Im Laufe der Zeit kehren eine Vielzahl von Theoriegruppen immer wieder in neuen Kleidern und unter neuen Namen auf, werden aber marktschreierisch als tolle Neuheiten angepriesen, ihre grundsätzlich wesentlich höhere Leistungsfähigkeit gegenüber den früheren Ansätzen wird gepriesen und die Vergangenheit wird verächtlich in Entwertungsschüben entsorgt. Dieser langlebige Zeitgenosse würde also erstaunt sein, wie oft unter neuen Markenzeichen bereits frühere Theorien wiederbelebt als einmalige Neuigkeiten wiederkehren. Die Theorie des neuen Konstruktivismus würde ihm daher nur ein Lächeln entlocken, würde er doch sehen, in wie vielen Kleidern sie schon über die Erde ging und vor allem wie naiv man heute alle die Probleme gar nicht sehen will, die sie mit sich bringt, oder die sie auch in der Vergangenheit nicht zu lösen vermochte.

Konstruktivismus im Unterricht

Norbert Bartos führt in PC News 84 im September 2003 aus, wie sich die neue Denkschule des Konstruktivismus als didaktische Methode im Unterricht vorteilhaft einsetzen lässt. Darin finden sich etwa folgende Sätze: "Die Konstruktion mentaler Wirklichkeiten ist aber subjektiv, also von unseren Zielen, Wünschen und Erwartungen bestimmt. Wechselwirkungen zwischen Betrachter und Betrachtetem treten immer auf. Die absolute Objektivität ist letztlich eine Illusion." In diesen, den Konstruktivismus beiläufig umreißenden Sätzen schlummern bereits ebenso viele Probleme, wie scheinbar durch diese neue Schule gelöst erscheinen.

Probleme des Konstruktivismus

Die LeserInnen werden, um unsere kritischen Argumente ausreichend gründlich verfolgen zu können, im Vorfeld gebeten, sich eine ausführliche Untersuchung zum Thema unter http://or-om.org/MI und KI1.htm durchzusehen Eine PDF Version des Artikels findet sich unter httt://suche.pcnews.at ; Pflegerl; PCNews Hefte 26/27/28).

Die menschlichen Erkenntnisoperationen bestehen tatsächlich aus einem Konstruktionsprozess. An diesem sind die Sinnesorgane E, die äußere und innere Phantasie (D1 und D2) sowie Begriffe C beteiligt, die zum Teil vor jeder Erfahrung schon im Bewusstsein gegeben sein müssen und aus Begriffen Cs, die aus der Gesellschaft stammen. Die aktiven Leistungen der Phantasie werden zumeist eher nicht sorgfältig beachtet.

Der erwähnte Artikel enthält aber im weiteren eine sonst nicht übliche Aufstellung der Erkenntnisschulen, nach eine Stufenfolge.

Die naivsten Erkenntnisschulen(1), der naive Empirismus, gehen davon aus, dass uns die Außenwelt unmittelbar zugänglich ist und wir daher unsere Erkenntnisse mit der "tatsächlichen" Welt außer uns vergleichen können. Decken sich Erkenntnis und Außenwelt, liegt Wahrheit vor.

Die zweite Schule M(2), der kritische Realismus ist schon ein wenig vorsichtiger.

 

Erkenntnisschulen (2): Kritischer Realismus

 

Dieser wurde etwa vom späten Carnap vertreten. Während der Empirismus ursprünglich meinte, für den Aufbau wissenschaftlicher Theorien könne man sich auf Logik und Mathematik sowie auf solche Ausdrücke beschränken, die empiri­sche Begriffe zum Inhalt haben, worunter man solche versteht, deren Anwendbar­keit mit Hilfe von Beobachtungen allein entscheidbar ist, hat sich diese Annahme als zu eng erwiesen. Der prominente Kenner der Schule, Stegmüller, schreibt: "Die Untersuchung über theoretische Begriffe hat gezeigt, dass frühere empirische Vorstellungen vom Aufbau wissenschaftlicher Theorien grundlegend modifiziert werden müssen. Während nach der Vorstellung des älteren Empirismus in allen Erfahrungswissenschaften der Theoretiker nur solche Begriffe einführen dürfte, die mit dem Begriffsapparat definierbar sind, welcher dem Beobachter zur Verfügung steht, und ferner der Theoretiker nichts anderes zu tun hätte, als Beobachtungsergebnisse zusammenzufassen und zu generellen Gesetzesaussagen zu verallgemeinern, ergibt sich jetzt das folgende Bild von den Aufgaben eines Theoretikers. Er hat weit mehr zu tun, als beobachtete Regelmäßigkeiten zu verallgemeinern. Vielmehr muss er ein neues System von Begriffen konstruieren, die zu einem Teil überhaupt nicht und zu einem anderen Teil nur partiell auf Beobachtbares zurückführbar sind; er muss sich im Weiteren ein System von Gesetzen ausdenken, welche diese neugeschaffenen Begriffe enthalten; und er muss schließlich eine Interpretation seines Systems geben, die eine bloß teilweise empirische Deutung zu liefern hat, die aber dennoch genügen muss, um das theoretische System für die Voraussagen beobachtbarer Vorgänge benutzen zu können. Die Begriffe, mit welchen er operiert, können ganz abstrakte theoretische Begriffe sein; dennoch ist er gegen die Gefahr eines Abgleitens in die spekulative Metaphysik so lange gefeit, als er zeigen kann, dass alle diese Begriffe eine Voraussagerelevanz besitzen."

 

Aus diesem Zitat entnehmen wir gleich zweierlei: Zum einen die enorme Bedeu­tung der überhaupt nicht aus der Erfahrung stammenden abstrakten Begriffe C beim Aufbau einer jeden wissenschaftlich Theorie. Es zeigt sich also, dass jede empirische Beobachtung bereits durch das System der theoretischen Begriffe des Forschers vorgeformt wird, dass daher diese Begriffe eine Brille mit bestimmter Färbung und bestimmtem Schliff sind, mit der wir überhaupt erst Beobachtungen machen. Setzen wir uns andere Brillen mit anderer Färbung und anderen Schliffen auf, erhalten wir andere Beobachtungen. Die theoretischen Begriffe sind bereits beobachtungs-konstitutiv, sie sind an der Erzeugung der Beobachtung grundle-gend beteiligt. Folgerung: Wir erhalten andere Beobachtungen, wenn wir andere theoretische Begriffe benutzen. Die Außenwelt wird eine Funktion unserer theoretischen Begriffe.

 

Nach unserer Ansicht kann eine "neutrale" Beobachtungssprache nur gefunden werden, wenn es wissenschaftlich möglich ist, den Bau der Welt jenseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt in einem unendlichen Grund der beiden deduktiv abzuleiten.[1] Zum Zweiten zeigt dieses Zitat die Problematik, Metaphysik auszuklammern und metaphysische Schulen auszugrenzen. Sicherlich kann der Begriff "Voraussagerelevanz" nur sehr schwer überhaupt definiert werden.

 

Erkenntnisschulen (3): Transzendentaler Idealismus

 

Dieser Schulentyp ist für uns hier besonders wichtig, weil er zeigt, dass die Idee, dass wir die Welt konstruieren, schon sehr alt ist, und in der Philosophie immer wiederkehrt. Die "Außenwelt" ist ein subjektives Erzeugnis des menschlichen Bewusstseins, wobei nur die Sinneseindrücke auf eine Außenwelt hindeuten. Das Subjekt erzeugt mittels Sinnlichkeit E, Phantasie D(1) und D(2) sowie Begriffen C dasjenige, was man Außenwelt nennt. Prominente Vertreter sind Kant und Wittgenstein in der Philosophie des Traktat sowie heute Schulen des radikalen Konstruktivismus. Eine über oder außer dem Subjekt gegebene Instanz zur Sicherung der Wahrheit oder Sachgültigkeit der vom Subjekt erzeugten Bewusstseinskonstrukte gibt es nicht.

 

Bei Kant spielen aber für die Frage der Wahrheit die Ideen eine wichtige regulative Funktion.

 

Wird (nach Kant) der Verstand mit seinen Kategorien auf Ideen wie Gott, Welt, Seele usw. angewendet, dann ist dies deshalb unzulässig, weil diesen Ideen nichts entspricht, wie bei der sinnlichen Erfahrung, wo durch ein "Ding an sich" mittels sinnlicher Anschauung und Verstand ein Gegenstand gebildet wird. Wenn ich daher die Idee der Welt als "All des Seins" denke, übertrage ich die Kategorien des Verstandes, die nur für die Erfahrung, also in Verbindung mit Sinnlichkeit gelten, auf Unendlichkeiten, die, weil unerfüllbar, sich der Erfahrung entziehen. Das Sein im Ganzen (Gott) ist kein Gegenstand. Ideen zeigen sich, wo ich im Fortgang der Verstandeserkenntnis den Abschluss zu einem Ganzen suche. Sie täuschen, wenn der Abschluss – als in einem erkannten Gegenstand erreicht – gedacht wird. Dieser Weg ist eine notwendige Illusion unserer Vernunft. Die Ideen sind notwendige Illusionen unserer Vernunft. Den Ideen kann in der Erfahrung nie ein adäquater Gegenstand gegeben werden.

 

Wir gewinnen jedoch durch die Ideen Regeln unseres Fortschreitens in der Erkenntnis, aber nicht den Gegenstand der Idee. Die Ideen sind daher regulative Prinzipien des Fortganges der Forschung, nicht konstitutive Prinzipien für den Aufbau eines Gegenstandes. Die Vernunft liefert daher regulative Prinzipien jeden Verstandesgebrauchs für mögliche Erfahrung.

 

Es ist mit Nachdruck festzuhalten, dass bei Kant diese regulativen Funktionen der Ideen, also metaphysischer Bereiche, jenseits des Verstandes eine essentielle Rolle spielen, die in der späteren Analyse und Beurteilung Kants oft einfach ausgeklammert werden. Man beschränkte sich darauf, seine Grenzziehungsverfahren hinsichtlich des Verstandes als Legitimation für eigene, zumeist noch engere Grenzziehungen einzusetzen. Dies geschieht auch in den Schulen des Konstruktivismus, die hier einzuordnen wären.

 

Erkenntnisschulen (4): Transsubjektive, transpersonale Systeme

 

Hier wird angenommen, dass jenseits des Subjektes ein letzter Urgrund, ein Grundwesen, Gott ist, mit dem der Mensch in Verbindung steht und durch wel­ches Wesen Subjekt und Au­ßenwelt verbunden sind. In diesen Bereich fallen alle intuitiven Einsichten, denen aber noch deduktive wissenschaftliche Präzision fehlt, wie dies in mythischen, pantheistischen und ähnlichen Konzeptionen in der Darstellung des Verhältnisses zwischen Gott und der Welt geschieht (z. B. Platon, Hegel, Schelling, Jaspers, theosophische, pansophische und mystische Systeme).

 

Erkenntnisschule (5): Grundwissenschaft

Der heute fast unbekannte Philosoph Karl Christian Friedrich Krause (1787-1832) entwickelte eine Grundwis­senschaft, eine wissenschaftlich präzise, undogmatische, progressive und deduktive Metaphysik. Sie enthält neue Kriterien für die Frage der menschlich konstruierten Erkenntnisse, indem alles so erkannt wird, wie es an oder in unter der göttlichen Essentialität positioniert ist. Eine Revolution der Mathematik und Logik ist in diesem Ansatz integriert. Unsere Konstruktionen von Wirklichkeit sind demnach nur dann wahr, wenn die Konstruktionsprinzipien derselben denen der göttlichen Baugesetze entsprechen.

Von Wichtigkeit ist, wie die LeserInnen bemerken, dass die Schultypen die Grenzen der menschlichen Erkenntnis unterschiedlich eng stecken und dass im weiteren, die einzelnen Schulen und ihre Ansätze mit einander nicht kompatibel sind. Wenn daher der Vertreter ein Schule des Typs (1) mit einer der Gruppe (3) über seine Forschungsergebnisse streitet, ist es am besten, weiterzugehen. Da die Grundlagen des Streites (die Grundannahmen) bereits so unterschiedlich sind, müssen es die Ergebnisse noch viel mehr sein!

Typen des Konstruktivismus und deren Kritik

Wir beginnen mit einer kurzen Skizze der einzelnen Subschulen des Konstruktivismus und lassen unsere Kritik folgen. Der wichtigste Einwand gegen das etwas gespreizte Verhalten des Konstruktivismus besteht allgemein darin, dass er seine Grundannahmen auf sich selbst anwenden muss. Er müsste also sagen: Wenn alles, was wir erkennen und denken, Konstruktion ist, dann ist natürlich auch unser Konstruktivismus nur eine subjektive (oder sozial vereinbarte) Konstruktion. Als solche Konstruktion ist sie genauso relativ und subjektiv, wie alle anderen Konstruktionen aller anderen Erkenntnisschulen, die ganz andere Behauptungen über unser Erkennen aufstellen. Wir dürfen daher nicht behaupten, dass unsere Theorie des Konstruktivismus allgemeine und universelle Geltung beanspruchen kann. Auch der Satz, dass die absolute Objektivität eine Illusion sei, ist selbst eine Illusion. Wenn alles Illusion ist, dann ist auch ein allgemeingültiger Satz über Illusion oder Nicht-Illusion nicht möglich. Der Konstruktivismus fällt also in die Netze seiner eigenen Annahmen und verliert dort seine Bedeutung.

Damit verbunden ist folgendes weitere Problem: Wenn wir alle in jeweils unterschiedlichen subjektiven oder sozial-kollektiven Illusionen leben, wer sollte dann das (illusive) Recht haben, zu sagen, welche Illusionen mehr zulässig, erlaubt, moralisch vertretbar, sozial zulässig sind. Warum sollte man unter diesen Umständen in unseren Gesellschaften die Gesetze des islamischen Fundamentalismus nicht zulassen? Dieser ist auch nur eine, eben etwas andere Illusion. Wer regelt in einer Gesellschaft, welche Illusionen zulässig sind? Woher sollte derjenige das ja nur illusive Recht hiezu besitzen? Wer bestimmt, ob die Illusionen der Relativitätstheorien oder die Illusionen der Quantenphysik erlaubt sein sollen? Der Konstruktivismus dürfte etwa die Erkenntnisschulen (4) und (5) nicht als unzulässig ausschließen. Auch mit der Philosophie der Postmoderne müsste er sich auseinandersetzen, da diese versucht, mit der Vielfalt inkompatibler Erkenntnisansätze und Schulen umzugehen (vgl. http://or-om.org/Postpostmoderne.htm mit Darstellung der Probleme dieser Richtung).

(1)   Konstruktivismus in der Mathematik und das Unendliche.

Der Konstruktivismus in der Mathematik wurde Anfang dieses Jahrhunderts von den "Intuitionisten" (L. E. Brouwer und A. Heyting) entwickelt. Für den mathematischen Konstruktivismus existieren mathematische Objekte erst als Resultat eines Konstruktionsprozesses. Die Existenz mathematischer Objekte kann insofern nur postuliert werden, wenn es eine Methode oder ein Prinzip zur ihrer Konstruktion gibt.

Das Problem des mathematischen Konstruktivismus wollen wir anhand eines Beispiels demonstrieren, das in der genannten Website und in den PC NEWS 26/27/28 sehr ausführlich behandelt wird.:

Betrachten wir die Linie (1), so ist sie eine unendlich lange, gerade Linie. Wir stellen uns eine Welt vor, in der es nur diese unendlich lange Linie gibt. Alles, was es an Endlichem gibt, wäre dann in dieser Linie. Sie wäre dann der unendliche und unbedingte (absolute) Grund aller endlichen Linien, die wir im Weiteren in dieser Welt der Linie finden werden.

 

Nun blicken wir auf die Linie (2), die schon in der Linie (1) ist. Sie zeigt uns, was die Linie (1) in sich ist. Die Linie (1) ist in sich zwei und nur zwei Linien, i und e, die beide noch unendlich lang, aber doch insoweit gegenheitlich sind, als die eine ist, was die andere nicht ist und umgekehrt, das heißt, sie verneinen und begren-zen einander teilweise. Jede der beiden ist zwar noch unendlich lang, aber der Punkt x ist ihre Grenze gegeneinander.

 

Hier in dieser ersten Ableitung der Linie (1) nach innen erkennen wir, dass es in der ersten Ableitung nach innen, wenn man von einem unendlichen Ganzen ausgeht, nur zwei Glieder gibt, die beide noch unendlich sind. Wir sehen weiter, dass hier eine Neben-Gegen-Verneinung von i und e entsteht, wodurch aber die Linie (1) in keiner Weise negiert wird. Was heißt der Begriff Neben-Gegen-Verneinung? Die Linie i ist neben der Linie e, aber die eine ist, was die andere nicht ist und umgekehrt. Betrachten wir jetzt die Linie (1) mit der Linie (2) in Verbindung, so wird sichtbar, dass die Linie (1) als Ur-Linie über i und e steht und mit beiden verbunden ist. Als Ur-Linie ist die Linie (1) über beiden, die beiden sind unter ihr.

 

Die Linie (3) zeigt die zweite Stufe der Ableitung nach innen. Wir sehen, dass es in der Welt der Linie (1), in der zweiten Stufe nach innen, neue Arten von Linien gibt. Auf der Linie i gibt es unendlich viele Linien (a1, b1 usw.). Auf der Linie e gibt es unendlich viele Linien (a2, b2 usw.). Es gibt jedoch auch unendlich viele Linien, die sowohl auf i als auch auf e liegen (a3, b3 usw.).

 

Für alle diese Linien in Linie (3) gilt, dass sie nicht mehr unendlich lang, sondern nur mehr endlich lang sind. In der Wissenschaft der geraden Linie sind sie un-endlich endlich, weil eine Linie nicht endlicher sein kann als an beiden Enden begrenzt.

 

Die Frage lautet nun: Gibt es eine andere Gliederungsmöglichkeit der geraden Linie nach innen, oder ist diese deduktive Gliederung nach innen notwendig so und nicht anders? Ist sie also mutwillig dogmatisch, oder ist sie evident zwingend, sachgemäß?

 

Jeder, der sorgfältig gefolgt ist, wird zugeben können, dass es eine andere Möglichkeit der Gliederung nicht geben kann. Wir sagten, es handle sich um ein Gleichnis. Die Linie ist ja nur ein innerer Teil des unendlichen und unbedingten Raumes, der selbst ein noch besseres Gleichnis für die Gliederung Gottes in sich darstellt. Der Raum ist aber selbst nur eine innere Kategorie Gottes.

 

Der Konstruktivist wird sagen, dieser Bau der Linie ist ein subjektives Konstrukt. Er darf aber nicht sagen: Diese Konstruktion ist ein unzulässiges illusives Konstrukt. Er darf nämlich keine Illusion ausschließen. Der Brouwer`sche Konstruktivismus meint nun, wir können in der Aneinanderreihung endlicher Linien in Linie(3) unendlich konstruierend fortfahren, das Unendliche sei daher nur potentiell fortsetzbar gegeben. Das aktual Unendliche der Linie(1) könnten wir nicht erfassen und nicht erreichen. Dies ist jedoch offensichtlich logisch nicht ganz sauber gedacht, denn ohne dass wir die Linie(1) überhaupt schon vorfinden (also ohne sie erst zu konstruieren), können wir überhaupt nicht unendlich viele Linien, wie a1 usw. konstruierend aneinander reihen. Aktual-Unendlichkeit geht daher vor der Konstruktion unendlich vieler partialer Endlichkeiten. Ruht also nicht eigentlich die subjektive Konstruktion der endlichen Strecken in der unendlichen Linie(1)? Ist das der Fall, dann müsste auch der mathematische Konstruktivismus modifiziert werden. Für alle Varianten des Konstruktivismus gilt daher: die endlichen subjektiven und sozial-kollektiven Konstruktionen des Menschen, seine konstruierten Illusionen, sind und ruhen eigentlich immer in der unendlichen Essentialität Gottes, von der sie existentiell abhängig sind und ihre logischen Gesetze erhalten.

(2)   Erlanger Konstruktivismus.

Der "Erlanger Konstruktivismus« (begründet von P. Lorenzen, W. Kamlah u. a., Universität Erlangen) ist eine wissenschaftstheoretische Schule, die eine kritische Begründung der Wissenschaft und der Wissenschaftstheorie leisten will, indem sie methodisch, vollständig und zirkelfrei von einer Begründungsbasis (die selbst eine vorwissenschaftliche Praxis darstellt, Rekurs auf Hugo Dingler) ausgeht, um eine intersubjektiv durchschaubare begriffliche Praxis der Wissenschaftssprache zu konstruieren bzw. zu rekonstruieren.

Kritik: Wie wir schon erwähnten, muss ein Konstruktivist dieser Schule, wenn er ehrlich ist, zugeben, dass seine Begründungsbasis wiederum nur eine illusive Konstruktion sein kann. Auch die konstruierte Wissenschaftssprache ist ein neues, bedenkliches Konstrukt.

(3)   Radikaler Konstruktivismus.

Der „radikale" (E. v. Glasersfeld, Heinz v. Foerster) sucht als Theorie des Wissens die traditionellen Fragen der Erkenntnistheorie neu zu beantworten. Die genuin philosophischen Fragen danach, was Erkenntnis sei, wie sie erlangt und wie sie gerechtfertigt werden kann, verwandeln sich dabei in die Frage, wie das Substrat aller Erkenntnis, unser Gehirn, Erkenntnis erzeugt. Im radikalen Konstruktivismus haben wir damit eine naturalisierte Form der Erkenntnistheorie vor uns, welche die Antworten auf epistemologische Fragen nicht aus der Philosophie erwartet, sondern von den empirischen Wissenschaften (vor allem den Neurowissenschaften). Der radikale Konstruktivismus rekurriert dabei insbesondere auf Ansätze aus Systemtheorie, Neurobiologie (Autopoiese, H. Maturana) und second order cybernetics (Heinz von Foerster), die annehmen, kognitive Systeme seien „informationsdicht" (Ashby) und müssten ihre Wirklichkeit selbst erzeugen.

Kognition hat dann vor allem eine adaptive Funktion (Piaget) und besteht nicht in der Abbildung einer objektiven Wirklichkeit. Glasersfeld benutzt einen instrumentalistischen bzw. pragmatistischen Wissensbegriff, demgemäss Wissen in der Konstruktion begrifflicher Gebilde besteht, die noch nicht mit der Erfahrungswelt in Konflikt geraten sind. Diese Konstrukte stimmen nicht mit der ontologischen Welt überein (im Sinne einer Repräsentation), sie müssen nur in das Gesamtkonzept von Erfahrung "passen . Wenn diese begrifflichen Gebilde, die der Konstruktivismus „Wissen" nennt, passen, so heißt dies nicht mehr und nicht weniger, als dass dieses Wesen sich der Erfahrungswelt als Selektionsmechanismus stellt, und aus diesem Rückkoppelungsprozess ein für den erkennenden Organismus so lange gangbarer (»viabler«) Weg erzeugt wird, als dieser sein Überleben bzw. Anpassung sichert. Erkenntnis als Konstruktion in diesem Sinne heißt aber nicht, die Wirklichkeit als beliebige, willkürlich zuzurichtende phantastische Konstruktion zu begreifen, sondern als Konstruktion, die von der Widerständigkeit der Welt nicht negiert wird und insofern „passt", als sie funktioniert. Im evolutionären Prinzip des „Passens" liegen die Parallelen zur revolutionären Erkenntnistheorie.

Kritik: Es ist schon eine besonders naive Art des Konstruktivismus, wenn angenommen wird, man könnte statt einer "Erforschung des Bewusstseins", wie in der Tradition der Philosophie, nun mehr über unsere Erkenntnisvorgänge erfahren, wenn man die neurologischen Vorgänge im Gehirn untersucht. Es entspricht doch gerade und ausdrücklich den Annahmen des Konstruktivismus, dass wir niemals objektiv, wirklich ein Gehirn beobachten können, sondern uns von einem solchen doch immer nur subjektive Konstruktionen bilden, die wir nie mit dem Funktionieren des wirklichen Gehirns vergleichen können. Die neurologische Basis dieser Schule erweist sich daher selbst als Illusion! Hinzu kommt noch, dass wir nach dieser Schule ja nur durch Tätigkeiten desjenigen Gegenstandes, den wir untersuchen (Gehirn) das Gehirn untersuchen, und daher gar nicht wissen können, wie das Gehirn unabhängig von der Tätigkeit unseres Gehirn wahrhaftig funktioniert. Man sieht die zirkuläre Falle der Doppelillusion! (Ausfühlich wird das Problem in PCNEWS Nr. 50, Seite 100f. behandelt; als PDF-File in http://suche.pcnews.at ;Pflegerl; "Sieht Ihr Film rot auf rot?").

(4)   Radikaler Konstruktivismus und Kognitionswissenschaft

Mit dem Aufkommen systemtheoretisch ausgerichteter Ansätze, wie z. B. dem Konnektionismus (Repräsentation im Konnektionismus), werden die konstruktivistischen Vorstellungen zunehmend relevant.
Das Konzept der Konstruktion von Repräsentation ist ein zentrales Merkmal in der konstruktivistischen Sicht: im neuronalen Substrat ist die Dynamik für diese Konstruktionsprozesse verkörpert. Die Repräsentation im neuronalen Substrat erfüllt nicht mehr eine Abbildfunktion zwischen Umwelt und kognitivem Apparat, sondern sie konstruiert durch kontinuierliche physische Veränderung das zum Überleben und zur Reproduktion des Organismus adäquate Verhalten und stellt damit eine stabile Beziehung zwischen Umwelt und Organismus sicher. Das Repräsentationssystem nimmt aktiv an den Konstruktionsprozessen teil. Die Dynamik der Umwelt spielt dabei nur die Rolle eines Auslösers (Perturbation), welche die durch das Repräsentationssystem determinierten Verhaltensweisen selektiert. Die Konzepte der trial-&-error-Strategie und der funktionalen Passung bestimmen die Beziehung zwischen Umwelt und Repräsentationssystem. Die Repräsentationsstruktur wird so lange versuchsweise verändert und durch Verhalten externalisiert, bis ein intern oder extern festgestellter Fehler minimiert bzw. der homöostatische Zustand hergestellt ist."

Diese Variante des Konstruktivismus erweist sich als erkenntnistheoretischer Darwinismus. Wahr und erlaubt sind demnach nur jene Illusionen an Konstrukten, die ein relativ erfolgreiches Überleben des Subjektes oder von Gesellschaften erlauben und bisher gesichert haben. Hier gilt wiederum: Auch diese Variante ist selbst eine Illusion. Wir können nach dieser Theorie gar keine von Illusion freien Maßstäbe besitzen, um festzustellen, was überhaupt eine relativ erfolgreiche Art des Überlebens sein soll. Betrachtet man die Folgen dieser pragmatischen Theorien im heutigen Weltsystem (Konflikte zwischen Arm und Reich, Umweltbelastungen usw.), wird offensichtlich, dass diese funktionalistischen Illusionen nicht mehr erfolgreich sind.

Folgerungen

 

Soll aus den genannten Gründen das didaktische Hilfsgerüst des Konstruktivismus als unnütz verworfen werden? Sicher nicht. Die Überlegungen, dass man in der Persönlichkeit des Schülers sorgfältig jene Instanzen (Sinnesdaten, Phantasie, Begriffsbildungen, und die Konstruktion von Bewusstseinswirklichkeiten aus diesen Elementen) beachten, stimulieren, wecken und zur kreativen Selbständigkeit weiterführen soll, sind wertvolle Nebenprodukte dieser Theorie. PädagogInnen sind aber sicher gut beraten, wenn sie auch die großen Schwächen und Blindheiten dieses Ansatzes erkennen und derselben eingedenk in Fragen der Grundlagen der Mathematik, Logik, Wissenschaftstheorie und besonders der Ethik auch andere Erkenntnisschulen kennen, beachten und im Unterricht berücksichtigen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Konstruktivismus.doc



[1] Siehe unten Erkenntnisschule (5).