Roland Böckle

Ist das Bewusstsein eine Funktion des Gehirns?

 

Was ist Bewusstsein?

Bewusstsein, Geist, Seele, Selbst – alles Begriffe, für die es Dutzende mehr oder weniger scharfe Definitionen gibt.

Max Dessoir[1] hat bereits 1890 das Begriffspaar Oberbewusstsein/Unterbewusstsein vorgeschlagen. Diese beiden Begriffe wurden inzwischen von der Psychologie und Psychiatrie stark verfeinert. Für die folgenden Überlegungen schlage ich vor, „Oberbewusstsein“ jene Ebene des Bewusstseins zu nennen, die vom Verstand bestimmt ist und kontrollierbar erscheint. (Beachten Sie: Ich schreibe „erscheint“!) „Unterbewusstsein“ nenne ich jene Ebene, deren Inhalte unterhalb der so genannten Bewusstseinsschwelle wirken. In der Folge verwende ich – abweichend vom Alltagsgebrauch – den Begriff „Bewusstsein“ als Sammelbegriff für Ober- und Unterbewusstsein.

Die wesentliche Frage heißt aber nach meiner Einschätzung: Besteht der Mensch nur aus Materie, sind also Emotionen, Bewusstsein und Geist eine Funktion physikalischer und chemischer Prozesse? Oder existiert im Menschen etwas Immaterielles, das man Seele nennen könnte? Im zweiten Fall könnte man Bewusstsein als dem Bereich der Seele zugehörig auffassen.

Viele Wissenschaftler gehen allerdings davon aus, die Wissenschaft sei – zumindest nach weiteren Forschungen – in der Lage, alle Ausdrucksformen des menschlichen Bewusstseins, alle Phänomene wie Gedanken, Wille, Gefühle, die Kraft der Liebe, des Hasses, der Hoffnung vollständig als physikalisch-chemische Prozesse erklären zu können. Es gäbe keinen Geist ohne materiellen Träger. Der Mensch wird somit ausschließlich durch materielle Phänomene erklärt.

 

Der Beitrag der Gehirnforschung zum Problem „Was ist Bewusstsein?“

Ich will die Leistungen der Gehirnforschung nicht im Geringsten schmälern, sind sie doch außerordentlich eindrucksvoll. Zur Illustration einige Kostproben:

Ein Kubikmillimeter Großhirnrinde, das ist ein Würfelchen mit einem Millimeter Kantenlänge, enthält etwa 40.000 Nervenzellen verschiedener Art. Jede dieser Zellen steht mit 4.000 bis 10.000 anderen Nervenzellen in Verbindung. Jede empfängt von ebenso vielen Nervenzellen elektrische Impulse. Diese Impulse haben vor ihrer Entladung eine Spannung von etwa 50 bis 80 Millivolt. In Ihrem Gehirn findet also fortwährend eine Unzahl von elektrischen Entladungen statt, die sich in Ort und Häufigkeit unterscheiden, nur unwesentlich aber in der Spannung.

Die Gesamtzahl der Nervenzellen in einem menschlichen Großhirn liegt bei 10 hoch 11, das ist eine Eins mit elf Nullen. (Etwa so viele Sonnen gibt es in unserem Milchstraßensystem.) Die Gesamtzahl der Verbindungen im Großhirn liegt bei 10 hoch vierzehn, das ist eine Eins mit vierzehn Nullen, also noch tausend Mal mehr. Insgesamt verfügt das Gehirn des Menschen über rund 500 Billionen Verbindungen zwischen Gehirnzellen.

Das Leitungsnetz des menschlichen Großhirns hat eine Gesamtlänge von einer Million Kilometer. (Das ist etwa die dreifache Entfernung zwischen Erde und Mond.) Dieses Leitungsnetz wird ständig ausgebaut. Es handelt sich also um ein System, das durch den Gebrauch entsteht, um ein Netzwerk ohne Begrenzung.

Wenn man nun Bewusstsein mit den Tätigkeiten des Gehirns erklären will, dann klingt das nach Hans Flohr[2], Professor in Bremen, recht kompliziert. Ich schildere stark gekürzt:

Bewusstsein steht mit der Tätigkeit eines besonderen Typs von Synapsen in ursächlicher Verbindung, NMDA-Synapsen genannt. Die postsynaptische Membran dieser Synapsen trägt Rezeptoren, die durch den Transmitter Glutamat aktiviert werden. Diese Aktivierung ist durch den Stoff N-Methyl-D-Asparat möglich, abgekürzt NMDA. Die NMDA-Rezeptoren sind mit einem Kalziumkanal verbunden. Beim NMDA-Glutamat-Rezeptor ist der Kalziumkanal durch ein Magnesium-Ion blockiert. Dieser Kanal öffnet sich, wenn erstens das Glutamat freigesetzt ist und zweitens die postsynaptische Membran über das übliche Maß hinaus erregt ist. Kalzium kann nun in die Zelle eindringen und eine Second-messenger-Kaskade freisetzen, die auf verschiedenen Wegen die Übertragungseigenschaften der Synapse kurzfristig und langfristig verändert und somit die Effektivität der synaptischen Übertragung erhöht. Bei diesem Vorgang wird postsynaptisch Stickoxid als second messenger freigesetzt. Das Stickoxid diffundiert und wirkt auf die Präsynapse derartig ein, dass dort mehr Transmitter pro Erregung freigesetzt werden, was die Signalübertragung erhöht.

Der Text geht noch weiter.

Diese sicherlich eindrucksvolle Darstellung ist allerdings nichts anderes als der Versuch, das Bewusstsein als Folge von physikalisch-chemischen Prozessen erklären zu wollen. Hier wird also Bewusstsein, eine hoch komplizierte geistige Leistung, auf physikalisch-chemische Prozesse im Bereich der Materie reduziert. Dieses Verfahren ist naturwissenschaftlich völlig korrekt. Die Wissenschaft muss die Grenzen des von ihr Erklärbaren möglichst weit hinausschieben. Wie soll aber auf diese Weise zum Beispiel beim Hören von Beethovens Musik der Eindruck erklärt werden, der unser Bewusstsein zutiefst berührt? Schließlich sind die Begriffe „Materie“ und „physikalisch-chemische Prozesse“ nur Bilder, nur Verstehenshilfen, nur Erklärungsmodelle, also nur geistige Krücken zum Verstehen der Welt.

Auf höherer, komplexerer Ebene werden zudem die Gesetze einer niedrigeren, weniger komplexen Ebene unbedeutend. So muss man zum Beispiel für das praktische Verständnis eines Computers nicht wissen, wie seine Elemente funktionieren, wie also aus dotierten Halbleitern PN-Übergänge, Dioden und Transistoren werden. Darüber hinaus ist die Funktion eines einzelnen Transistors für den Programmierer völlig unwichtig, und für den Anwender ist es uninteressant, wie der Programmierer sein Programm geschrieben hat. Diese Aussage gilt entsprechend, wenn jemand hohe geistige Leistungen auf niedriger Ebene erklären will.

Einen wichtigen Beitrag zur Diskussion liefert Friedrich Kambartel[3], Professor in Konstanz. Er unterscheidet zwischen „Bedingungen“ und „Ursachen“. Ich schildere den Inhalt stark gekürzt:

Es gibt Zustände und Vorgänge im Gehirn, die Bedingungen für geistige Leistungen und entsprechende Handlungen sind. Der Wegfall solcher Bedingungen verursacht im Allgemeinen den Ausfall von Fähigkeiten. Daraus folgt aber nicht, dass die Bedingungen zugleich die Ursache des Handelns sind. Die Gehirnforschung hat nicht mehr als die Bedingungen für unser Handeln erforscht. Unser Bewusstsein ist durch Prozesse im Gehirn getragen, aber nicht von ihnen verursacht oder gesteuert. Wir denken also nicht im Gehirn. Und schon gar nicht denkt unser Gehirn selbst oder bewirkt physiologisch unser Denken und Handeln. Wohl aber gibt es physiologische Bedingungen im Gehirn, die das Denken ermöglichen, erleichtern oder erschweren.

Kambartel möge mir verzeihen, wenn ich seinen Gedankengang an einem trivialen Beispiel verdeutliche:

Es könnte sein, dass mein Auto nur deshalb nicht fährt, weil die Benzinleitung verstopft ist. Der Rest des Autos ist völlig intakt. Ich als Chauffeur, der das Auto bedienen will, möchte als Ursache der Autofahrt wirken, kann es aber nicht, weil eine wichtige Bedingung für das Funktionieren meines Autos wegfällt. Entsprechend könnte mein Bewusstsein völlig intakt sein; ich kann aber nicht mit Ihnen reden, weil zum Beispiel mein Sprachzentrum im Gehirn durch ein Blutgerinnsel blockiert ist.

Zu folgendem Gedankengang habe ich mich von dem Anthropologen, Ethologen Biologen, Neuropsychiater, Sozialwissenschaftler, Kybernetiker und Philosophen Gregory Bateson[4] anregen lassen, der zuletzt Professor an der University of California war:

Die Welt der unbelebten Materie, die mit den Gesetzen der Physik und Chemie beschrieben werden kann, enthält selbst keine Beschreibung. Die Beschreibung ist ein geistiger Akt, der nur einem menschlichen Bewusstsein möglich ist. Und wenn dieses Bewusstsein die materiellen Begleiterscheinungen des geistigen Akts im Gehirn beschreibt, ist es nicht damit identisch.

Ich kann einen Stein beschreiben, aber der Stein kann nichts beschreiben. Die Wahrheit meiner Aussagen über den Stein, kann der Stein nicht prüfen.

Ich kann die materiellen Prozesse im Gehirn beschreiben, aber das Gehirn kann nichts beschreiben.

Geistige Prozesse eines Bewusstseins bedienen sich zwar der Materie im Gehirn. Wenn ich aber die Wahrheit gewisser Aussagen über diese Materie geltend mache, ist es nicht die Materie, die das tut.

Eine Beschreibung setzt organisatorische und kommunikatorische Strukturen voraus, die nicht materiell sein können. Die Gesetze der Physik und Chemie sind für einen Beschreibungsvorgang keineswegs irrelevant, aber sie reichen für seine Erklärung nicht aus.

Geistige Prozesse verlangen eine Beschreibung ganz anderer Art als die Beschreibung materieller Prozesse. Soweit Bateson.

Wer mit der Erklärung des Bewusstseins durch physikalisch-chemische Prozesse nicht zufrieden ist, der muss nach einer anderen Theorie suchen. Schärfer formuliert: Eine Theorie der Gehirnfunktionen schließt eine Theorie des Bewusstseins nicht ein, sondern muss durch eine solche ergänzt werden. Ich bin der Meinung, dass eine solche Theorie nicht innerhalb der Grenzen der Naturwissenschaften gefunden werden kann, weil diese mit ihren Möglichkeiten nur die Bedingungen erforschen kann, aber nicht die Ursachen. Mir ist allerdings klar, dass meine Aussage kein wissenschaftlicher Beweis sein kann, sondern eine Annahme, die mir und vielleicht auch einigen von Ihnen plausibel erscheint. Denn schließlich sind immaterielle Phänomene weder mit den Möglichkeiten der Naturwissenschaften noch der Logik beweisbar.

Wer behauptet, es gäbe nichts Immaterielles – der hält die Widerspiegelung seiner Methode für das Ergebnis. Denn es ist selbstverständlich, dass eine Methode, die nur Materielles erfassen kann, nichts anderes als Materielles nachweisen wird.

Der Fehler materialistisch-reduktionistischer Erklärungsmodelle liegt meines Erachtens darin, dass man Phänomene der immateriellen Ebene von der materiellen Ebene aus beurteilen, erklären, beweisen oder widerlegen will. Das geht nicht, wenn die Wahrnehmungsfähigkeit für Immaterielles nicht auf gleiche Weise entwickelt ist: Man kann z. B. eine differenzierte akustische Wahrnehmung im Bereich der Musik nicht mit dem Geschmackssinn prüfen.

An dieser Stelle passt ein Zitat von Herbert Pietschmann[5], ehemals Professor für Theoretische Physik an der Universität Wien. Er schreibt: „Naturwissenschaft beschreibt die Materie in Raum und Zeit und sie erlaubt uns deren Gestaltung und Umgestaltung mit unerhörter Sicherheit. Daraus darf weder geschlossen werden, dass es nur Materie gibt, noch dass Naturwissenschaft auch Nicht-Materielles erfassen sollte.“ Es gibt also nach Pietschmann Phänomene, an deren Erklärung die Wissenschaft mit ihren Möglichkeiten scheitern muss. Demnach wäre die Behauptung falsch, alles, was die Wissenschaft nicht erklären kann, existiere nicht.

Namhafte Wissenschaftler haben dieses Problem erkannt, zum Beispiel Wolf Singer[6], Direktor am Max-Plank-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Er schreibt in seinem Buch „Der Beobachter im Gehirn“: „... Es [gibt] erhebliche Schwierigkeiten ..., Phänomene wie Bewusstsein und Empfindung mit ihren ausgesprochen subjektiven Konnotationen auf Hirnprozesse zurückzuführen, ohne die Grenzen verschiedener Beschreibungssysteme überschreiten zu müssen.“

An anderer Stelle schreibt Singer „Es geht ... darum, ein umfassenderes Beschreibungssystem zu entwickeln, in welches die neuen Beobachtungen auf konsistentere Weise eingebettet werden können, als das im Rahmen der bisherigen, voneinander getrennten Systeme möglich ist.“ In demselben Buch verlangt er weitere Erkenntnis, eigentlich eine geistige Revolution. „Damit Unvorstellbares gedacht oder Beobachtbares in neuen Bezügen gesehen werden kann, bedarf es der geistesgeschichtlichen Vorbereitung.“

Joachim Bauer[7], u. a. Professor für Psychoneuroimmunologie in Freiburg im Breisgau, sieht den Menschen als ganzheitliche und individuelle Persönlichkeit, die eigenverantwortlich denkt und handelt. Er lehnt es ab, den Menschen reduktionistisch aus seinen Gehirnfunktionen zu erklären. Beim Menschen bestimmen soziales Milieu, soziale Kontakte, Erziehungs- und Lernprozesse, individuelle Erfahrungen, Gefühle und Erlebnisse ganz entscheidend, wie das genetische Programm aktiviert und in der Folge die Ausbildung der Nervenverbindungen im Gehirn reguliert wird. (Er nennt es neuronale Plastizität.) Dabei ist nicht allein die An- oder Abwesenheit von solchen Einflüssen bedeutsam, sondern auch ihre Qualität. Wie wir unsere zwischenmenschlichen Beziehungen erleben, beeinflusst nicht nur unsere Psyche, sondern steuert auch die Gene und beeinflusst neurobiologische und körperliche Strukturen des Organismus, somit die Gesundheit von Psyche und Körper.

 

Der Beitrag der Mystik zum Problem „Was ist Bewusstsein?“

Ich möchte Sie nun zu folgenden Überlegungen einladen:

Mein Körper besteht aus Materie, die ein Teil dieser Welt ist. Ich nehme einen Ausschnitt der Welt mit Hilfe meiner Sinnesorgane wahr und verarbeite diese Eindrücke mit Hilfe meines Bewusstseins. Wäre mein Bewusstsein – reduktionistisch gesehen – nur eine Funktion physikalisch-chemischer Prozesse in meinem Gehirn, dann wäre es mit naturwissenschaftlichen Methoden vollständig beschreibbar – vielleicht derzeit noch nicht, aber in Zukunft als Ergebnis weiterer Forschungen.

Somit wäre also ein Teil dieser Welt – nämlich ich – offensichtlich in der Lage, andere Teile dieser Welt zu erkennen. Es fällt mir aber schwer anzunehmen, dass ein chemisch-physikalisches System zugleich ein Bewusstsein von sich selbst haben soll. Ich sehe hier einen unauflösbaren inneren Widerspruch. Die Situation ist vergleichbar mit einem Messer, das in der Lage ist, sich selbst zu schneiden.

Den Widerspruch kann ich leicht auflösen, wenn ich annehme, dass mein Bewusstsein kein Teil der materiellen Welt ist, also etwas anderes, etwas Vielschichtigeres. Ich zitiere dazu Friedrich August von Hayek[8], Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, zuletzt Professor in Freiburg im Breisgau:

„Jeder Apparat muss eine Struktur von höherem Komplexitätsgrad haben als die Dinge, die er zu erklären versucht.“

Jean Piaget[9] bringt dies ganz knapp auf den Punkt, indem er das Gödel’sche Theorem verallgemeinert. Ich schildere stark gekürzt:

Man kann die Widerspruchsfreiheit eines Systems nicht mit dessen eigenen oder mit schwächeren Mitteln beweisen. Es bedarf eines Systems höherer Ordnung. Soweit Piaget.

Dafür ein Beispiel: Ich kann die Druckfarbe der heutigen Tageszeitung chemisch analysieren. Daraus erhalte ich aber keinen Hinweis darauf, zu welchen Aussagen sich die in Druckfarbe aufgetragenen Zeichen verbinden, welche Bedeutung sie haben. Zu deren Verständnis bedarf es System höherer Ordnung – das ist mein Bewusstsein –, das mehr kann als nur chemische Analysen durchführen, das vor allem darüber entscheiden kann, ob die chemische Analyse hier sinnvoll ist. Übertragen wir diesen Gedanken auf die Gehirnfunktionen: Es genügt offenbar nicht, die Gehirnströme zu messen oder Second-messenger-Kaskaden zu beschreiben, um zu verstehen, was in meinem Bewusstsein vor sich geht.

Die Lösung des Problems besteht also in der Suche nach einem System höherer Ordnung, in einem Paradigmenwechsel, also in einem Wechsel des Erklärungsmodells, und das bietet zum Beispiel die Mystik an.

Die Mystiker nehmen an, das Bewusstsein sei etwas Immaterielles, das sich mit den Methoden der Naturwissenschaft nicht beschreiben lässt. Also können die Naturwissenschaften logischerweise auch nicht versuchen, im Menschen etwas Immaterielles finden zu wollen. Darüber können sie mit ihren Möglichkeiten keine Aussage machen. Dann stellt sich allerdings die Frage, woher das immaterielle Bewusstsein kommt und was mit ihm im Falle des Todes geschieht; denn es ist ja nicht den Gesetzen der Materie unterworfen, also auch nicht den Gesetzen von Zeit und Raum. Aber das würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.

Fahren wir in den Überlegungen fort: Ich will, dass sich meine Hand hebt. Wie Sie sehen, folgt die Materie meines Körpers jetzt meinem Willen: Meine Hand hebt sich. In meinem mystischen Denkmodell komme ich aber jetzt in Konflikt mit der klassischen Physik, die aussagt, dass es keine Möglichkeit gibt, von außerhalb der Physik in die Physik hineinzuwirken.

Diesen Konflikt hat John C. Eccles[10] aufgelöst, Nobelpreisträger für seine gehirnphysiologischen Forschungen. Er führt in seinem Buch „Wie das Selbst sein Gehirn steuert“ den Nachweis, dass es ein Bewusstsein gibt, das nicht identisch mit der Materie der Gehirnmasse ist. Es verfügt frei und unabhängig über das Werkzeug Gehirn. Diese Kontrolle ist so umfassend, dass man eine vollständige Herrschaft des Bewusstseins über das Gehirn annehmen kann. Mit Hilfe der Quantentheorie versucht Eccles darzustellen, dass es sehr wohl möglich sei, dass dieses immaterielle Bewusstsein in die Materie des Gehirns, also in die Welt der Physik hineinwirkt, und er beschreibt genau, wo und wie diese Prozesse im Gehirn ablaufen. „Somit ist den materialistischen Dualismus-Kritikern ... die wissenschaftliche Grundlage entzogen.“

Beachten Sie bitte: Eccles erklärt materielle Phänomene vom Menschen her, nämlich als Folge seines Denkens, also seines Bewusstseins.

Wie zu erwarten, wird diese Position von den materialistisch orientierten Wissenschaftlern heftig kritisiert, ja, sogar verspottet.

Der Biologe Robert Wesson[11], ehemals Professor an der Stanford University, stellt in seinem Buch „Die unberechenbare Ordnung“ einen Gedankengang dar, den ich in diesem Zusammenhang für interessant halte. Ich schildere stark gekürzt:

Es gibt denkende Wesen; deshalb muss der Kosmos so beschaffen sein, dass er die Existenz von denkenden Wesen hervorbringen kann. Die Bedingungen und die Naturgesetze des Universums haben genau so zu sein, dass sie Lebewesen mit einem Bewusstsein ermöglichen, das so beschaffen ist, dass es dieses Universum untersuchen und deuten kann. Daraus folgert er, dass das Bewusstsein ein inhärenter Bestandteil des Universums sein muss, also dem Universum innewohnend. Denn nur ein höheres Bewusstsein kann zum Beispiel ein menschliches Bewusstsein hervorbringen. Soweit Wesson.

Das Bewusstsein sei ein inhärenter Bestandteil des Universums, also ihm innewohnend! Wenn aber Bewusstsein etwas Immaterielles ist, bedeutet die Aussage des Biologen Robert Wesson, dass im Kosmos eine immaterielle Wesenheit existiert, welche die Existenz sowohl des materiellen Körpers eines Menschen als auch seines immateriellen Bewusstseins ermöglicht. Nennen wir dieses höhere Bewusstsein doch einfach „Gott“, und jenen Teil des Göttlichen Bewusstseins, der im Menschen wirkt, „Seele“.

Das Göttliche ist der Naturwissenschaft unzugänglich, weil sich ihre Erklärungsmodelle letztlich auf physikalisch messbare Erscheinungen im Bereich der Materie und der Energie beziehen.

Solange ein Mensch auf der Erde lebt, bleibt für ihn das Erfassen des Göttlichen ein Bemühen ohne Abschluss. Die Vorstellung, die sich ein Mensch von Gott macht, spiegelt lediglich die Entwicklungsstufe seines Bewusstseins wider, nicht aber das Göttliche. Deshalb auch das Gebot in der Bibel[12]: „Du sollst dir kein Gottesbild machen.“

Weil niemand das Göttliche vollständig erfassen kann, hat aus der Sicht der Mystiker auch niemand das Recht, seine eigene Gottesvorstellung zu einem Dogma zu erheben, an das zu glauben er andere Menschen mit Macht zwingen darf.

Alle Offenbarungen des Göttlichen Bewusstseins, die von einem menschlichen Bewusstsein empfangen werden – man denke hier zum Beispiel an die Propheten Moses und Mohammed –, transformiert dieses menschliche Bewusstsein auf seine Entwicklungsstufe, also auf die individuell unterschiedliche Stufe des Erfassenkönnens. Dieses Phänomen ist ja bereits in alltäglichen Kommunikationsprozessen zu beobachten. So versteht jeder Einzelne von Ihnen meine Ausführungen anders, weil jeder von Ihnen die Botschaft meines Beitrags anders aufnimmt und anders interpretiert – auf Grund von Voraussetzungen, die in Ihnen liegen, also auf Grund Ihrer bis zum Augenblick entwickelten Fähigkeiten der Wahrnehmung und der Verarbeitung Ihrer Wahrnehmung, also Ihrer Bewusstseinsstrukturen.

Lassen Sie mich mit einem praktischen Beispiel schließen.

 

Wo entsteht Musik?

Ich führe Ihnen nun ein Musikstück vor mit der Absicht, Ihnen zu zeigen, dass Gefühlswelten nicht mit dem Instrumentarium der Naturwissenschaften erschlossen werden können.

Von den Lautsprechern gehen dabei Schwingungen der Luft aus. Man kann die Frequenzen und Amplituden dieser Schwingungen sowie alle ihre Veränderungen messen. Die Geräte geben aber keine Auskunft darüber, wie diese Musik auf Sie wirkt.

Musik ereignet sich nicht in den Schwingungen der Luft, nicht in den Schwingungen des Trommelfells und der Knöchelchen im äußeren Ohr, nicht in den komplizierten Vorgängen im inneren Ohr, nicht in der Reizleitung zum Gehirn und nicht in den dort messbaren physikalischen und chemischen Vorgängen. Das spezielle Erleben von Musik, zu dem ein Mensch fähig ist, entsteht und ereignet sich allein in einem menschlichen Bewusstsein, und zwar im Oberbewusstsein und Unterbewusstsein zugleich. Die Wirkung, die Musik auf einen Menschen ausübt, kann in keinem Fall außerhalb eines Bewusstseins existieren.

Stellen Sie sich vor, Sie hören Musik, zum Beispiel ein Streichtrio von Ludwig van Beethoven. Ich denke da an den zweiten Satz aus op. 9 Nummer 2, Andante quasi Allegretto. Es gibt eine Aufnahme, da spielen drei Mitglieder der Wiener Philharmoniker, die sich zum Wiener Philharmonia Trio zusammengefunden haben. Ich bewundere den herrlichen Klang der kostbaren Instrumente, die ausgefeilten Übergänge und die Art und Weise, wie die drei Spieler in den allerkleinsten Nuancen aufeinander reagieren. Wenn Sie diese Musik hören, können Sie sich von der Komposition eines großen Meisters und der Kunst der Interpreten berühren lassen, aber genießen Sie vor allem die Tatsache, dass Sie zu mehr fähig sind als zu elektrischen Entladungen von 50 bis 80 Millivolt und zu Second-messenger-Kaskaden Ihrer Gehirnzellen, die durch Kalzium freigesetzt werden.

Wie diese überzeugend gute Interpretation zustande kam, werden Sie allerdings nicht dadurch erfahren können, dass Sie die Instrumente der drei Spieler untersuchen.


 



[1] Dessoir, Max (1867–1947): Das Doppel-Ich. Berlin 1890.

[2] Flohr, Hans (geb. 1942): Die physiologischen Bedingungen des phänomenalen Bewusstseins. In: Forum für interdisziplinäre Forschung I. 1992, S. 49–55.

[3] Kambartel, Friedrich (geb. 1935): Kann es gehirnphysiologische Ursachen unseres Handelns geben? In: Elephant/Wolters (Hg.): Denkmaschinen? – Interdisziplinäre Perspektiven zum Thema Gehirn und Geist. Konstanz 1993, S. 215–227.

[4] Bateson, Gregory (1904–1980)/Bateson, Mary Catherine (geb.1938): Angels Fear – Towards an Epistemology oft the Sacred. New York 1987. Deutsch: Wo Engel zögern – Unterwegs zu einer Epistemologie des Heiligen. Frankfurt am Main 1993, S. 32 ff.

[5] Pietschmann, Herbert (geb. 1936): Aufbruch in neue Wirklichkeiten – Der Geist bestimmt die Materie. Stuttgart/Wien/Bern 1997, S. 176.

[6] Singer, Wolf (geb. 1943): Der Beobachter im Gehirn. Frankfurt am Main 2002. S. 194, S. 180, S. 183.

[7] Bauer, Joachim (geb. 1951): Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. München 2005.

[8] Hayek, Friedrich August von (1899–1970): The Sensory Order. Chicago 1952, S. 75.

[9] Piaget, Jean (1896–1980): Sagesse et illusions de la philosophie. Paris 1963. Deutsch: Weisheit und Illusion der Philosophie, Frankfurt am Main 1985, S. 59.

[10] Eccles, John C. (1903–1994): How the Self Controls its Brain. Berlin/Heidelberg 1994. Deutsch: Wie das Selbst sein Gehirn steuert. Berlin/Heidelberg 1994. Taschenbuchausgabe Piper 2286, München 1996, S. 244.

[11] Wesson, Robert (1920–1991): Beyond Natural Selection. Cambridge 1991. Deutsch: Die unberechenbare Ordnung – Chaos, Zufall und Auslese in der Natur. München o. J., S. 356.

[12] Exodus 20, Vers 4.