Roland Böckle
Der schöpferische Prozess in der Kunst
aus psychologisch-philosophischer Sicht
„Das Leben entzieht sich den Formeln und Systemen, die der Verstand ihm aufzuerlegen bemüht ist.“
Sri Aurobindo, indischer Philosoph (1872–1950)
1. Begriffsklärung Kunst
Der Begriff „Kunst“ als Bezeichnung für etwas extra Geschaffenes existiert nur im Bewusstsein der von der abendländischen Kultur geprägten Menschen.
„Kunst ist für den Kunstschaffenden Ausdruck in Form von Symbolen oder Symbolprozessen[1]. Für den Betrachter oder Hörer ist Kunst Eindruck und Wirkung.
Für den Kunstschaffenden ist Kunst das, was er als Kunst versteht oder zur Kunst erklärt. Für den Betrachter oder Hörer ist das Kunst, was in seinem Bewusstsein als Kunst erscheint und wirkt. Beide Kunstbegriffe sind abhängig von Kultur und Bildung; sie müssen sich nicht decken.
Der Eindruck, den ein Kunstwerk hervorruft, Verständnis und Bedeutung eines Kunstwerks existieren nur in einem menschlichen Bewusstsein. Folglich kann es keine von Menschen unabhängigen, also keine absoluten ästhetischen Kriterien geben. Denn jedes ästhetische Urteil bezieht sich auf das individuell unwiederholbar Wahrgenommene, und dies ist bei jedem Menschen anders und verändert sich stets.“[2]
Kunst besteht also in ihren Wirkungen. An diesem Wirkungsprozess sind sowohl die Kunst-Schaffenden und die Kunst-Vermittelnden einerseits und die Kunst-Rezipierenden andererseits je mit ihrem Bewusstsein beteiligt. Deshalb ist es in diesem Beitrag erforderlich, zunächst den Begriff „Bewusstsein“ zu klären.
2. Begriffsklärung Bewusstsein
Der Begriff „Bewusstsein“ kommt in Physik und Chemie nicht vor.[3] In einer Naturwissenschaft, die auch die lebenden Organismen mit umfasst, muss das Bewusstsein aber einen Platz haben, weil es zur Wirklichkeit gehört. Wir wissen zwar, dass es Bewusstsein gibt, weil wir es selbst besitzen, das Bewusstsein ist aber mit naturwissenschaftlichen Methoden derzeit nicht zufriedenstellend erklärbar, denn es ist kein Objekt, das durch Substanz und Kausalität bestimmbar wäre.[4]
Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Autoritäten, die hier eine Grenze der Naturwissenschaften sehen. So sagt zum Beispiel der Physiker und Philosoph Ludwig Boltzmann (1844–1906): „Die Möglichkeit einer mechanischen Erklärung der ganzen Natur ist nicht bewiesen, ja, dass wir dieses Ziel vollkommen erreichen werden, kaum denkbar.“[5]
Herbert Pietschmann (geb. 1936), emeritierter Professor für theoretische Physik an der Universität Wien, schreibt: „Naturwissenschaft beschreibt die Materie in Raum und Zeit und sie erlaubt uns deren Gestaltung und Umgestaltung mit unerhörter Sicherheit. Daraus darf weder geschlossen werden, dass es nur Materie gibt, noch dass Naturwissenschaft auch Nicht-Materielles erfassen sollte.“[6]
Wolf Singer (geb. 1943), Direktor am Max-Plank-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main, meint: „Es [gibt] erhebliche Schwierigkeiten [...], Phänomene wie Bewusstsein und Empfindung mit ihren ausgesprochen subjektiven Konnotationen [Bedeutungszuschreibungen, R. B.] auf Hirnprozesse zurückzuführen, ohne die Grenzen verschiedener Beschreibungssysteme überschreiten zu müssen.“[7]
Und der Physiker Erwin Schrödinger (1887–1961) bringt es auf den Punkt: „Der Grund dafür dass unser fühlendes, wahrnehmendes und denkendes Ich in unserem naturwissenschaftlichen Weltbild nirgends auftritt, kann leicht in fünf Worten ausgedrückt werden: Es ist selbst dieses Weltbild.“[8]
Die Naturwissenschaften verzichten eigentlich nur darauf, jene Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten können.
Trotz dieser Einschränkungen kann man den Strukturen und Funktionen der menschlichen Persönlichkeit nachspüren, auch wenn sie nicht direkt beobachtbar sind.[9] Dafür bedarf es eines Begriffssystems.
Sigmund Freud (1865–1939) unterscheidet z. B. drei Ebenen des Bewusstseins: das Bewusste, das Vorbewusste und das Unbewusste. Carl Gustav Jung (1875–1961) unterscheidet zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, dem er das Konzept des kollektiven Unbewussten mit universellen Symbolen (Archetypen, siehe Abschnitt 3) hinzufügt.
Aus keinem dieser Begriffssysteme wird genügend deutlich, dass das Bewusstsein eine untrennbare Ganzheit ist, deren Facetten wir lediglich mithilfe von Begriffen zu verstehen suchen. Deshalb ziehe ich die Begriffe „Oberbewusstsein“ und „Unterbewusstsein“ vor, die Max Dessoir (1867–1947) in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt hat.[10] Die untrennbare Ganzheit kann dann mit dem eigenen Begriff „Bewusstsein“ bezeichnet werden; „Oberbewusstsein“ und „Unterbewusstsein“ wirken somit in der Ganzheit „Bewusstsein“ zusammen.[11]
In entsprechender Abwandlung von C. G. Jungs Einteilung[12] schlage ich vor, im Zusammenhang mit dem Anliegen dieses Beitrags folgende vier Phasen des menschlichen Bewusstseins zu unterscheiden:
2.1 Die objektive Phase des Oberbewusstseins.
2.2 Die subjektive Phase des Oberbewusstseins.
2.3 Die subjektive Phase des Unterbewusstseins.
2.4 Die kollektive Phase des Unterbewusstseins.
2.1 Zur objektiven[13] Phase des Oberbewusstseins gehören alle Wahrnehmungen mithilfe der Sinnesorgane; dies sind nicht nur die sogenannten „fünf Sinne“ (Gesichtssinn, Gehörsinn, Geruchssinn, Geschmackssinn, Tastsinn), sondern u. a. auch Kälte- und Wärmesinn, Gleichgewichtssinn, Muskelspannungssinn, Gelenkstellungssinn und Schmerzsinn, also alle Sinne, die einen direkten oder indirekten Kontakt mit der Außenwelt ermöglichen. Allerdings liefern die Sinnesorgane dem Bewusstsein keine Widerspiegelungen der Eigenschaften von Dingen, sondern nur Eigenschaften, die das sensorische System wahrnehmen und übermitteln kann, die also der Qualität der Sinne und ihrer Kombinationsmöglichkeiten entsprechen. So liefert z. B. das Auge prinzipiell immer nur optische Eindrücke und ist beim Sehen auf gleichzeitige Bewegung der Augäpfel angewiesen.
Auch Emotionen bestimmen stark mit, was wahrgenommen wird.
Der Mensch ist aber in der Lage, mithilfe technischer Geräte die Wahrnehmungsbereiche der Sinnesorgane zu erweitern. So stellen wir z. B. mit „künstlichen Sinnesorganen“ die Existenz von Ultraschall fest, den unsere Sinne nicht erkennbar machen.
Die Sinne liefern eine der Grundlagen für unsere Erkenntnis – auch wenn viele Reize nur unterschwellig, also unbewusst wahrgenommen werden. Diese können sogar unbewusste Wünsche und Konflikte aktivieren.
2.2 Zur subjektiven Phase des Oberbewusstseins gehören alle individuell ausgebildeten „geistigen Handwerkszeuge“, das sind u. a.
· die Fähigkeit, Wahrnehmungen zu deuten und zu bewerten, sie zu verknüpfen und zu speichern;
· die Fähigkeit, in Begriffen, Bildern, Klängen, Formen usw. zu denken;
· die Fähigkeit, Erkenntnisse zu gewinnen und mithilfe von Begriffen und Logik zu formulieren;
· die Fähigkeit, Sinn zu stiften;
· die Fähigkeit, Gefühle wie Lust und Unlust zu empfinden und auszudrücken;
· die Fähigkeit, Emotionen wie Zorn, Hass, Liebe zu empfinden und auszudrücken;
· die Fähigkeit, den Willen mithilfe des Oberbewusstseins auszurichten.
Diese Bereiche überschneiden sich zum Teil.
Ein Individuum nimmt von der Außenwelt nur jene Qualitäten wahr, welche die von ihm bisher ausgebildeten „geistigen Handwerkszeuge“ zulassen. Allerdings verändern sich diese Handwerkszeuge unter Umständen bei jedem Erkenntnisprozess (siehe Abschnitt 5).
2.3 Die subjektive Phase des Unterbewusstseins umfasst zunächst alle unwillkürlichen Funktionen des physischen Körpers, die über das vegetative Nervensystem gesteuert werden, also z. B. Herzschlag und Blutkreislauf, Atemrhythmus, Verdauung, Hormonausschüttung, innere Temperatur, Wundheilung. Darüber hinaus speichert sie aber Inhalte der Lebensgeschichte: Vergessenes, Verdrängtes und unbewusst Wahrgenommenes. Hier wird kein Sinn zugewiesen, hier werden keine Urteile gefällt.
Manche dieser Inhalte können jederzeit ins Oberbewusstsein gehoben werden, andere sind nicht so ohne weiteres bewusst zu machen – manche möglicherweise nie. So oder so: All diese Inhalte wirken in den Bereich der subjektiven Phase des Oberbewusstseins hinein und bestimmen – oft autonom – in hohem Maß die Motivation für bestimmte Entscheidungen und Handlungen, ohne dass dies immer bewusst wird. Häufig brechen undifferenzierte Inhalte aus dem Unterbewusstsein unerwartet, oft verblüffend ins Oberbewusstsein ein und führen zu einer Synthese von bewussten und unbewussten Inhalten. Dies gilt auch für Inhalte aus der kollektiven Phase des Unterbewusstseins und spielt eine besondere Rolle im Bereich der Kunst.
Allen Geigern bekannt ist wohl das Beispiel von Giuseppe Tartini. Er berichtet: „Eines Nachts träumte mir, ich hätte einen Pakt mit dem Teufel um meine Seele geschlossen. Alles ging nach meinem Kommando, mein neuer Diener erkannte im Voraus all meine Wünsche. Da kam mir der Gedanke, ihm meine Fidel zu überlassen und zu sehen was er damit anfangen würde. Wie groß war mein Erstaunen, als ich ihn mit vollendetem Geschick eine Sonate von derart erlesener Schönheit spielen hörte, dass meine kühnsten Erwartungen übertroffen wurden. Ich war verzückt, hingerissen und bezaubert; mir stockte der Atem, und ich erwachte. Dann griff ich zu meiner Violine und versuchte, die Klänge nachzuvollziehen. Doch vergebens. Das Stück, das ich daraufhin geschrieben habe, mag das Beste sein, das ich je komponiert habe, doch es bleibt weit hinter dem zurück, was ich in dem Traum gehört habe, und ich nenne es noch immer ,Die Teufelssonate‘, aber sie reicht so wenig an jenes überwältigende Stück heran, dass ich meine Geige zertrümmern und die Musik für immer aufgeben würde, um in seinen Besitz zu kommen.“[14]
Dass dieser Vorgang auch in der Wissenschaft eine Rolle spielen kann, ist durch viele Berichte über kreative Einfälle belegt.[15] Besonders interessant ist eine Äußerung des Physikers Albert Einstein (1879–1955) über das produktive Denken.[16]
2.4 Nach C. G. Jung umfasst die kollektive Phase des Unterbewusstseins[17] aus der Menschheitsgeschichte gespeiste Verhaltensweisen in Situationen wie Angst; Gefahr; Abhängigkeit, in der Beziehung der Geschlechter, in der Kind-Eltern-Beziehung und in Haltungen zu Liebe, Geburt und Tod. Was im Zusammenhang mit diesem Beitrag besonders interessiert, sind die tief verwurzelten Erfahrungen im Umgang mit Tanz, Rhythmus, Klang in Kombinationen mit Ritual, Ekstase und Magie sowie die Ausdrucksformen in Bildern und Skulpturen.
Über die Phase des kollektiven Unterbewusstseins steht jeder Mensch in ständiger Verbindung mit dem Numinosen.[18] Da dies für alle Menschen zutrifft, steht das kollektive Unterbewusstsein eines Individuums indirekt in ständiger Verbindung mit dem kollektiven Unterbewusstsein aller Menschen – unabhängig von ihrer jeweiligen Kultur. Dieser Bereich des kollektiven Unterbewusstseins kann wohl niemals ins Oberbewusstsein gehoben werden, seine Wirkungen kann man aber verspüren und in Symbolen und / oder Symbolprozessen fassen.
Die Phylogenese[19] der Menschheitsentwicklung wiederholt sich in der Ontogenese[20] des Individuums – auch in der Entfaltung seines Bewusstseins. Dies lässt sich mithilfe der Bewusstseinsstrukturen des Kulturphilosophen Jean Gebser (1905–1973) gut nachvollziehen:[21] Das Bewusstsein eines Kindes durchschreitet im Prozess des Erwachsenwerdens die Gebser’schen Stufen von der archaischen Stufe über die magische und mythische Stufe zur mentalen Stufe, gleichsam der Entwicklung der Menschheitsgeschichte folgend, bis hin zur integralen Stufe der Zukunft. Beim Erwachsenen sind alle Stufen gleichzeitig potenziell wirksam, werden aber je nach Kultur und individueller Sozialisation unterschiedlich aktiviert.
Die in Abschnitt 2 dargestellten vier Phasen des menschlichen Bewusstseins sind – wie gesagt – vier Aspekte eines einheitlichen Bewusstseinsstroms. Das Ursprüngliche ist allerdings das Unterbewusstsein, aus dem sich das Oberbewusstsein immer wieder hervorhebt. Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007) formuliert dies lapidar so: „Bewusstsein ist ein unbewusster Akt.“[22] Das bedeutet, Bewusstsein kann sich selbst in all seinen Aspekten nur unvollkommen begreifen.
Auch das von mir hier vorgeschlagene Begriffssystem ist lediglich eine Arbeitshypothese, ein Erklärungsmodell: Es hält einer Verifikation[23] und Falsifikation[24] nach naturwissenschaftlichen Prinzipien nicht stand. Schließlich manifestiert sich alles Unbewusste oft unabhängig von der Logik sowie unabhängig von Raum und Zeit, also außerhalb der Beschreibungsmöglichkeiten der Naturwissenschaften, außerhalb der materiellen Welt. Ausschlaggebend ist lediglich der Grad der Plausibilität dieses Begriffssystems, also die Frage, ob es sich im Zusammenhang mit dem Anliegen dieses Beitrags bewährt, ob es zweckdienlich ist. Außerdem: Kein denkbares Erklärungsmodell trägt allen Facetten des Bewusstseins Rechnung.
Zeitlich nach C. G. Jung wurden von der Psychologie noch andere Konzepte zur Erklärung der Persönlichkeitsstruktur entwickelt. Manche davon – z. B. der Behaviorismus[25] – verzichten auf die Annahme eines Unterbewusstseins. Sie eignen sich deshalb nicht für das Anliegen dieses Beitrags. So kann z. B. der schöpferische Prozess im Denkmodell der Behavioristen nicht untersucht und verstanden werden.
3. Archetypen
Bevor der schöpferische Prozess betrachtet werden kann, muss ein weiterer Begriff geklärt werden, den C. G. Jung eingeführt hat: der Begriff „Archetypus“.[26] Jung nennt Archetypen auch „Organe der Seele“, die formal bestimmen, welche Manifestationen möglich sind. Die jeweilige Ausformung wird von den individuellen Voraussetzungen bestimmt. Archetypen sind Kraftfelder des kollektiven Unterbewusstseins, die an sich nicht wahrnehmbar sind, die aber in das Oberbewusstsein als Träume, Phantasien oder Visionen eintreten und sich in der Menschheitsgeschichte in Symbolen, Symbolprozessen[27], Mythen und Märchen äußern. Nach C. G. Jung schöpfen alle Lebensäußerungen letztlich aus dem kollektiven Unterbewusstsein. Dort ist die gesamte Erfahrung der Menschheit gespeichert und als Modus psychischer Funktionen vererbt.
Archetypen können nicht erklärt werden; sie bleiben ein unerkennbares und unformulierbares Prinzip, das unabhängig von einem einzelnen menschlichen Bewusstsein existiert. Sie ermöglichen aber individuelle Ausformungen und Erlebnisse von surrealer Wirkung, oft von archaischer und magischer Kraft (Abb. 1), die nur einem menschlichen Bewusstsein möglich sind.
Die Universalität der Archetypen ist in den unterschiedlichen Kulturen belegt – sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Dafür liefern Eibl-Eibesfeldt und Sütterlin[28] zahlreiche Beispiele.
4. Symbole und Symbolprozesse
Die Begriffe „Zeichen“ und „Symbol“ werden leider uneinheitlich, oft mehrdeutig verwendet. Im Zusammenhang mit dem Anliegen dieses Beitrags wähle ich folgende Definition (wissend, dass auch anders definiert werden könnte): Zeichen haben eine vereinbarte Bedeutung (das Pluszeichen, ein Verkehrszeichen) oder eine sinnfällige Bedeutung (Piktogramme), die mit dem Oberbewusstsein begriffen werden soll. Symbole dagegen sind vieldeutig und haben ihre Quelle in der subjektiven oder objektiven Phase des Unterbewusstseins. Es gibt allerdings einen fließenden Übergang zwischen Zeichen und Symbol auch nach dieser Definition, besonders in der Frühgeschichte der Menschheit oder in heute noch lebenden traditionellen Kulturen.[29]
Man kann drei Arten von Symbolen unterscheiden: persönliche Symbole (z. B. der Baum, unter dem ich den ersten Kuss bekam), traditionelle Symbole (z. B. ein Kreuz, eine Pyramide, der Sensenmann) und künstlich geschaffene Symbole (z. B. ein Gemälde, eine Skulptur, ein Gebäude). Auch gibt es statisch manifestierte Symbole (z. B. ein Dreieck) und in der Zeit verlaufende Symbolprozesse.[30]
Alle Symbole und alle Symbolprozesse tragen in sich einen Bedeutungskern, der auf Archetypen gründet. Sie sind Abbildungen psychischer Energien; viele greifen auf kollektive Strukturen des Unterbewusstseins zurück.
Symbole und Symbolprozesse können nie erschöpfend gedeutet werden. Dafür ein Beispiel: Ein Kreis besteht – mit dem Oberbewusstsein verstanden – aus einer Kreislinie, hat eine Kreisfläche, einen Mittelpunkt und einen Radius. Noch mathematischer: Der Kreis ist eine ebene Kurve, deren Punkte von einem festen Punkt (dem Mittelpunkt) einen konstanten Abstand (den Radius) haben. Wer diese Betrachtungsweise wählt, betrachtet den Kreis noch nicht als ein Symbol.
Nun ist aber der Kreis ein Jahrtausende altes traditionelles Symbol der Menschheit, dessen Bedeutungsvielfalt mit den Möglichkeiten der Sprache nicht annähernd ausschöpfbar ist: Zelle, Kosmos, Universum, Ganzheit, Einheit, Vollkommenheit, Vollendung, Unendlichkeit, Ewigkeit, Harmonie … Was das Oberbewusstsein mithilfe der Sprache nacheinander aufzählt, erfasst das Unterbewusstsein blitzartig als Ganzes, gekoppelt mit dem sicheren Gefühl, dass der Kreis noch viel, viel mehr bedeutet, als das Oberbewusstsein im Augenblick mitteilt. Die Begriffe der Sprache erlauben nur einen begrenzten Zugang, sie engen eher die Bedeutung ein; das Symbol aber öffnet den Betrachter persönlich für Botschaften aus verschiedenen Dimensionen zugleich.
Die Form, in der die Botschaft eines Symbols den Betrachter erreicht, ist ein Spiegel seines Wesens und seiner derzeitigen Entwicklungsstufe. Die Botschaft erscheint ihm auf die im Augenblick bestmögliche Art und Weise. Weil aber die Botschaft immer reichhaltiger ist, als der Betrachter sie im Augenblick erfassen kann, verändert sie zugleich das Wechselspiel seiner Bewusstseinsebenen: Sich mit Symbolen beschäftigen heißt also, an der Transformation der eigenen Persönlichkeit arbeiten.
Das Beispiel zeigt: Der rationale Anteil eines Symbols ist mit dem Oberbewusstsein erschließbar. Der transrationale Anteil ist nur zum Teil in Sprache übersetzbar, aber intuitiv erfühlbar – oder mithilfe von Meditation teilweise entschleierbar. Durch Meditation kann nämlich das Oberbewusstsein weitgehend ruhig gestellt, kann der Zugang zum Unterbewusstsein erleichtert werden. Dies wird je nach Kultur und Tradition durch bestimmte Körperhaltungen und Atemtechniken, oft in Verbindung mit dem Absingen bestimmter Lautkombinationen und / oder dem Abbrennen von Räucherwerk erreicht, auch in Verbindung mit meditativer Musik. In der Regel ist dazu langes Üben erforderlich. Das Ergebnis der Meditation kann sich wiederum in Symbolen, aber auch in Intuitionen[31], in oft rätselhaften Mitteilungen aus dem Unterbewusstsein zeigen, die nur individuell gedeutet werden können. Manche Künstlerinnen und Künstler schaffen ihre Werke aus der Ekstase, aus der Trance oder aus der Meditation heraus (Abb. 2), manchmal sogar aus missverstandenem Drogenrausch.
Wer sich mit Symbolen und Symbolprozessen intensiv beschäftigt, begegnet keinem von ihnen zweimal auf dieselbe Weise, weil jede Begegnung die bewussten und unbewussten Möglichkeiten der Ausdeutung und Wirkung verändert (genauer in Abschnitt 5); denn die Botschaft ist immer reichhaltiger, als der Betrachter sie derzeit erfassen kann. Symbole und Symbolprozesse erleichtern das Zusammenspiel von Ober- und Unterbewusstsein und transformieren so die Persönlichkeit auf eine Stufe höherer Empfänglichkeit für subtile Einflüsse aus der Welt der Archetypen, vielleicht sogar des Numinosen. Man denke z. B. an die Wirkung von Ritualen in Verbindung mit Symbolen, Duftstoffen, Gestik, Tanz und Musik, besonders in anderen Kulturen – ein Bereich, der im abendländischen Kulturkreis durch die Dominanz des Oberbewusstseins oft verschlossen bleibt.[32]
In diesem Beitrag betrachte ich Symbole und Symbolprozesse in der Kunst – sowohl als Ergebnis eines schöpferischen Prozesses als auch als Gegenstand der Vermittlung und als Gegenstand der Wahrnehmung. Hier sind Symbole und Symbolprozesse Schaltstellen zwischen den verschleierten Inhalten des Unterbewusstseins und ihren wahrnehmbaren Manifestationen.
5. Wahrnehmung als konstruierender Akt
Wie sich das Wahrnehmungsvermögen im Wahrnehmungsprozess ständig verändert, hat der Psychologe, Biologe und Philosoph Jean Piaget genau untersucht.[33]
Das Bild von der Außenwelt wird keinesfalls durch Widerspiegelung im Bewusstsein hervorgerufen.[34] Wahrnehmung ist ein konstruierender Akt, ein schöpferischer Prozess, ist Deutung. Das Bild von der Außenwelt wird mithilfe von Denk- und Handlungsstrukturen konstruiert. Diese Strukturen werden nicht ersonnen oder entdeckt, sondern von jedem Individuum allmählich entwickelt.
Das Wahrgenommene wird entweder mit den bereits ausgebildeten Denk- und Handlungsstrukturen aufgenommen (Piaget sagt, „an ihnen assimiliert“) und in das Erfahrungsgefüge eingebaut, oder die Strukturen werden bei einem höheren Grad von Neuartigkeit verändert (Piaget sagt „akkommodiert“). Beide Prozesse sind gegenläufige Formen der Anpassung (Adaption) an die Außenwelt, die sich wechselseitig bedingen und ergänzen. Ihr Verhältnis kann stark variieren.
Kennzeichen einer intelligenten Leistung ist das Bemühen, im Zusammenwirken von Assimilation und Akkommodation die Denk- und Handlungsstrukturen fortwährend kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls neue, übergeordnete, aufeinander abgestimmte Strukturen auszubilden (Organisation). Ziel ist ein ausgewogenes System von Strukturen, das weitgehend widerspruchsfrei ist (Abb. 3).
Da stets neue Denk- und Lernprozesse auf dieses System einwirken, kann es als ein sich fortwährend veränderndes System beschrieben werden, das sich in einem beweglichen Gleichgewicht befindet. Das Individuum sorgt in ständiger dynamischer Selbstregulation (Äquilibration) für das anhaltende Zusammenwirken von Denk- und Handlungsstrukturen verschiedener Kompliziertheit. Der Grad der Beweglichkeit dieser Selbstregulation ist für Piaget ein Maß der Intelligenz.
Das gesamte System der Denk- und Handlungsstrukturen repräsentiert jeweils die Gesamtheit der Erfahrungen eines Individuums im Strukturieren der Außenwelt. Somit ist alles, was wir von der Außenwelt zu wissen glauben, von uns konstruiert, ist sinnstiftend gestaltet.
Nach Piaget gelten die Prozesse von Assimilation und Akkommodation, von Adaption, Organisation und Äquilibration auch für unbewusste Wahrnehmungen,[35] also für die Ausbildung unbewusster Wahrnehmungsstrukturen. [36] Soweit Piaget.
Die Denk- und Handlungsstrukturen werden zwar in Organisationsprozessen allmählich ausgebildet, sie unterliegen aber auch dem Einfluss eines Wirkungsgefüges unzähliger Evolutionsschritte aus der Geschichte der Menschheit, das noch kaum erforscht ist und sich in den von C. G. Jung postulierten Archetypen manifestiert hat. Zu einem anderen Teil unterliegen sie seit der frühen Kindheit dem Einfluss soziokulturell erworbener Verarbeitungsmuster[37] (genauer in Abschnitt 6).
Es liegt nahe anzunehmen, dass die von Piaget dargestellten Prozesse auch für die Wahrnehmung von ästhetischen Objekten, also von Symbolen und / oder Symbolprozessen gelten. Dafür ein Beispiel aus dem Bereich der Musik:
Nehmen wir an, ein Mozart-Liebhaber höre ein ihm bisher unbekanntes Werk von Mozart. Dann wird es ihm leicht möglich sein, das Werk mithilfe seiner bisher ausgebildeten Strukturen (im Bereich Musik sind dies wohl Hörstrukturen) angemessen wahrzunehmen (an den Strukturen zu assimilieren) – was auch immer man unter „angemessen“ verstehen will. Dieser Mozart-Liebhaber hört nun ein ihm unbekanntes Werk des zeitgenössischen Komponisten Wolfgang Rihm (geb. 1952). Seine bisher ausgebildeten Hörstrukturen reichen möglicherweise nicht aus, um das Werk von Rihm angemessen wahrzunehmen. Er wird sich entweder dem Neuartigen verweigern, oder er wird sich mit dem Werk befassen und somit in Teilbereichen seine Hörstrukturen so verändern (akkommodieren), dass er von nun an Mozart und Rihm angemessen hören kann. Möglicherweise hört er jetzt mithilfe seines nun ausgebildeten Systems höherer Ordnung Mozart sogar anders, detaillierter, subtiler. Denn seine Persönlichkeit ist auf eine Stufe höherer Empfänglichkeit transformiert.
Auf jeden Fall: Auch die Wahrnehmung ästhetischer Objekte wird mithilfe der jeweils ausgebildeten Wahrnehmungsstrukturen individuell konstruiert.
6. Der schöpferische Prozess im Bereich ästhetischer Objekte
Bei jedem schöpferischen Prozess – soweit wir ihn überhaupt zu verstehen vermögen – schafft der kreativ tätige Mensch seine Werke nach seinen Möglichkeiten im Rahmen der Strukturen seines Bewusstseins. Diese sind besonders stark beeinflusst von den in der kollektiven Phase des Unterbewusstseins ruhenden Archetypen.
Die Archetypen werden beim schöpferischen Prozess belebt, in Symbolen und / oder Symbolprozessen individuell ausgeformt und manifestiert – oft unter intensiver Beteiligung des Oberbewusstseins.
Die Strukturen des Bewusstseins sind aber auch entscheidend geprägt von individuellen Erfahrungen während der Sozialisation innerhalb eines bestimmten Kulturraums. Hier wurden die Symbol- und Gefühlswelten vieler einzelner Menschen in einem langsamen historischen Prozess miteinander verschmolzen, in das Bewusstsein der heranwachsenden Menschen seit der frühen Kindheit eingeprägt und vielfach kommuniziert. Dieser Vorgang bestimmt die Ausdrucksformen der jeweiligen Kultur und Subkultur wesentlich mit. So sind z. B. manche Ausdrucksformen erst seit der Renaissance möglich (man denke etwa an die perspektivische Darstellung) oder erst seit dem 20. Jh. (z. B. Zwölftonmusik und Popart).
Zunehmend spielen heutzutage kultur- und epochenübergreifende Einflüsse eine Rolle.
Besonders befähigte schöpferische Größen haben die vorgefundenen Ausdrucksmittel erweitert und für ihre Gefühlswelt mit den Möglichkeiten ihres Bewusstseins eine überhöhte Darstellung gefunden, die vielleicht sogar den historischen Prozess weitergeführt hat. Anders gesagt: Der kreativ tätige Mensch greift die Möglichkeiten auf, die ihm die geistigen Strukturen seiner Zeit bereitstellen – wobei es ihm gelingen mag, diese Möglichkeiten weit zu übersteigen und etwas Außergewöhnliches, etwas noch nie Dagewesenes zu schaffen – weil er z. B. aus dem Unterbewusstsein schöpfend auf Archetypen zurückgreift, und sich weniger an bereits vorhandenen Manifestationen orientiert. Dadurch webt er an den geistigen Strukturen seiner Zeit mit – wie z. B. Leonardo da Vinci, Ludwig van Beethoven, Pablo Picasso und Andy Warhol. „Wie weit der individuelle Spielraum sich von kommunikativen und sozialen Normen entfernen bzw. den Konsens verweigern kann, bleibt vom Künstler jedes Mal im Dialog mit Markt und Publikum auszuloten.“[38] Denn er ist eingebettet in ein Spannungsfeld zwischen soziokulturellem Konsens und individuellem Gestaltungswillen. Dies kann sogar dazu führen, dass manche Künstlerinnen und Künstler zu ihren Lebzeiten verkannt werden wie z. B. van Gogh.[39]
Für gläubige Menschen können Kunstwerke in Glücksfällen ihre Kraft aus dem Numinosen[40] schöpfen. In diesem Sinn könnte man die Tatsache deuten, dass viele Komponisten des Mittelalters und des Barock die Werke im Spiegel ihrer Zeit mit „Soli Deo Gloria“ (lat. „Einzig Gott zur Ehre“) signierten, wie z. B. J. S. Bach und G. F. Händel – oft statt des Namens. Auch tragen alle Kompositionen von J. Haydn die Überschrift „In Nomine Domini“ (lat. „Im Namen des Herrn“) und enden mit „Finis Laus Deo“ (lat. „Beendet zum Lob Gottes“). Über seine Arbeit an der „Schöpfung“ schreibt Haydn: „Ich war noch nie so fromm als während der Zeit, da ich an der ‚Schöpfung‘ arbeitete; täglich fiel ich auf die Knie und bat Gott, dass er mich stärke für mein Werk.“[41]
Das Geschaffene setzt bei jenen Menschen, die sich der Kunst zuwenden, die sich also diesen Symbolen und Symbolprozessen öffnen können, ihrerseits im schöpferischen Prozess der Wahrnehmung entsprechende Kräfte frei. Das verlangt oft eine intensive Vorbereitung und / oder baut auf einer unbewusst wirkenden kulturellen Tradition auf. Diese Menschen treten dann ihrerseits in Kontakt mit der Symbol- und Gefühlswelt des kreativ tätigen Menschen sowie mit den aktivierten Archetypen – und das kann zu Erlebnissen von fundamentaler Bedeutung führen, zu tiefer Ergriffenheit.
Wenn die formende Kraft des kreativ tätigen Menschen zu einem hohen Grad individuell unterschiedlicher Ausdeutbarkeit seiner Symbole und / oder Symbolprozesse führt, werden viele Menschen angesprochen – oft aus unterschiedlichen Epochen, Kulturkreisen und soziokulturellen Untergruppen. Dies ist z. B. der Fall bei vielen altsteinzeitlichen Felsmalereien (Abb. 1), bei antiken griechischen Tempeln und bei Musik der Wiener Klassik – aber auch bei manchen Arten von Rockmusik, wenn sie archetypische Muster aufgreifen. Darüber hinaus: Wo es Dichte im Symbolsystem gibt, da ist Vertrautheit niemals vollständig und endgültig; jede neue Begegnung kann bedeutsame Subtilitäten aufdecken: Und was wir aus einem Symbol herauslesen, was es für uns bedeutet, ändert sich mit unserem eigenen Beitrag. So ist es möglich, dass jedes Individuum seinen ganz persönlichen Zugang zu einem Kunstwerk findet, weil dieses in vielfältigen Kommunikationsprozessen immer wieder neue Deutungen ermöglicht. „Jedes Kunstwerk […] bietet sich als ein unendlich vielen Arten der Rezeption offener Gegenstand. Und das nicht deshalb, weil ein Kunstwerk ein bloßer Vorwand für alle Betätigungen der subjektiven Sinnlichkeit wäre, das alle augenblicklichen Stimmungen und Launen auf sich zieht, sondern weil es ein Merkmal des Kunstwerks ist, sich als unerschöpfliche Quelle von Erfahrungen zu setzen, die, indem sie es beleuchten, stets neue Aspekte aus ihm herausholen.“[42]
Wenn der Grad der individuell unterschiedlichen Ausdeutbarkeit gering ist, kann dies als Kriterium für Trivialität und Banalität dienen.[43]
Nicht zu unterschätzen ist auch der gruppendynamische Aspekt des Vermittlungsprozesses. Manche Menschen neigen einer bestimmten Art von Kunst nur deshalb zu, weil sie sich jener Gruppe zugehörig fühlen wollen, die diese Kunst produziert und / oder schätzt.
Ich erläutere die komplexen Entstehungs- und Wirkprozesse am Beispiel der Musik genauer. Eine Komponistin oder ein Komponist belebt durch aktive Imagination[44] bestimmte Archetypen und fasst sie mithilfe des Systems der Musik des jeweiligen Kulturkreises und der Epoche, also der jeweils gültigen musikalischen Besonderheiten (Rhythmik, Melodik, Harmonik, Instrumentierung, Formgestaltung, Kommunikationsmuster …) in eine Komposition oder Improvisation – das System möglicherweise erweiternd oder verändernd.[45]
Wenn diese Belebung in besonders hohem Maß vom Intellekt, also vom Oberbewusstsein gesteuert ist und / oder auf mangelndem handwerklichen Können beruht, kann die Wirkung auf die Zuhörer abgeschwächt sein und wird im günstigsten Fall zu einem intellektuellen Genuss, manchmal sogar zu einem „leeren“ Symbolprozess oder zu einem trivialen Ereignis.
Wenn der Grad der individuell unterschiedlichen Ausdeutbarkeit gering ist, kann dies als Mangel ästhetischer Qualität bewertet werden.
Dies alles gilt entsprechend für jede Art der Interpretation und Vermittlung von Musik.
Eine ganzheitliche Wirkung wird nur dann erzielt, wenn sowohl bei der Komponistin bzw. dem Komponisten als auch bei der Interpretin bzw. dem Interpreten – entsprechend bei einem Ensemble – Oberbewusstsein und Unterbewusstsein verknüpft sind, also in ständiger Wechselwirkung stehen, und wenn die Hörerinnen und Hörer ihrerseits zu dieser Verknüpfung fähig sind – was nicht immer der Fall sein mag. So lässt der Komponist und Dichter E. T. A. Hofmann den Komponisten Ritter Gluck sagen: „Alles dieses, mein Herr, habe ich geschrieben, als ich aus dem Reich der Träume kam. Aber ich verriet Unheiligen das Heilige.“[46] Bei den Hörerinnen und Hörern können Verstehensmängel auch an fehlender individueller und / oder kultureller Prägung liegen.
Im übertragenen Sinn treffen die hier dargestellten Gedanken für alle Bereiche schöpferischen Gestaltens und seiner Manifestationen und für alle Bereiche seiner Vermittlung und Wirkung zu. Das Zusammenwirken von Oberbewusstsein und Unterbewusstsein bei allen am Schaffens- und Vermittlungsprozess Beteiligten ist das Geheimnis der Wirkung von Kunst.
Die Wirkung ist besonders tief, wenn etwas prinzipiell Unfassbares in wahrnehmbaren Symbolen und / oder Symbolprozessen ausgedrückt wird, die individuell vermittelt und reich ausgedeutet werden können.
Lassen Sie mich mit einem sehr persönlichen Bekenntnis von Johannes Brahms schließen, das er kurz vor seinem Tod in einem Interview zögernd geäußert hat. (Er bestand darauf, dass die Aussagen erst fünfzig Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurden.)
„Ich werde jetzt […] darüber berichten, wie ich mit dem Unendlichen in Verbindung trete, denn alle wirklich inspirierten Ideen stammen von Gott. Beethoven, mein Vorbild, war sich dessen wohl bewusst.
[…] wenn ich mich bei meiner Arbeit in meiner größten Schaffenskraft fühle, spüre ich, dass eine höhere Macht durch mich wirkt. […]
Wenn ich den Drang in mir spüre, wende ich mich zunächst direkt an meinen Schöpfer und stelle ihm die drei in unserem Leben auf dieser Welt wichtigsten Fragen – woher, warum, wohin?
Ich spüre unmittelbar danach Schwingungen, die mich ganz durchdringen. Sie sind der Geist, der die inneren Seelenkräfte erleuchtet, und in diesem Zustand der Verzückung sehe ich klar, was bei meiner üblichen Gefühlslage dunkel ist […]. Diese Schwingungen nehmen die Form bestimmter geistiger Bilder an, nachdem ich meinen Wunsch und Entschluss bezüglich dessen, was ich möchte, formuliert habe, nämlich inspiriert zu werden, um etwas zu komponieren. […]
Sofort strömen die Ideen auf mich ein, direkt von Gott; ich sehe nicht nur bestimmte Themen vor meinem geistigen Auge, sondern auch die richtige Form, in die sie gekleidet sind, die Harmonien und die Orchestrierung. Takt für Takt wird mir das fertige Werk offenbart, wenn ich mich in dieser seltenen, inspirierten Gefühlslage befinde. […] Ich muss mich im Zustand der Halbtrance befinden, um solche Erlebnisse zu erzielen – ein Zustand, in welchem das bewusste Denken vorübergehend herrenlos ist und das Unterbewusstsein herrscht, denn durch dieses, als einen Teil der Allmacht, geschieht die Inspiration. Ich muss jedoch darauf achten, dass ich das Bewusstsein nicht verliere, sonst entschwinden die Ideen. […]“[47]
www.hypnose-kikh.de/museum_de/saal1
Préhistoire de l'art occidental. Paris : Mazenod
Abb. 1: „Magier“ aus der Höhle „Les trois Frères“ bei Ariége (in Südfrankreich am Rande der Pyrenäen). Altsteinzeit, etwa 20 000 Jahre alt. Die ganz in Schwarz teils geritzte, teils gemalte Figur ist 75 cm hoch und thront schwer zugänglich in 4 m Höhe über mehr als 600 eleganten, bunten Tierdarstellungen. Die Höhle ist nur über einen 40 m langen, schmalen Gang kriechend zugänglich und war niemals bewohnt. Sie wurde über 2000 Jahre lang vermutlich nur zu kultischen Zwecken genutzt.
Abb. 2: Michael Vetter (geb. 1943). Aus einem Zyklus von 40 Grafiken (1985). Tusche auf Japanpapier, 33 x 24,3 cm. Privatbesitz. Vetter schuf jede einzelne Grafik nach einer langen Phase tiefer Zen-Meditation jeweils in Sekundenschnelle.
[1] Symbolprozesse verlaufen in der Zeit, z. B. Musik, Theater, Musiktheater, Film, Tanz, Ritual.
[2] Böckle, Roland: Musik – Spielraum des Bewusstseins. In: Musikerziehung. Wien 10 / 2008, S. 15.
[3] Ich greife in diesem Absatz einen Gedanken des Physikers Werner Heisenberg (1901–1976) auf und führe ihn weiter. Siehe Heisenberg, Werner: Der Teil und das Ganze – Gespräche im Umkreis der Atomphysik. München 1969, TB 1973, S. 138.
[4] Zu diesem Problem siehe auch Böckle, Roland: Ist das Bewusstsein eine Funktion des Gehirns? In: PCNEWS Nr. 104, Wien 2007, oder http://pcnews.at/_pdf/n1040004.pdf.
[5] Ludwig Boltzmann: Ein Wort der Mathematik an die Energetik (1896). In: Ders.: Populäre Schriften. Braunschweig / Wiesbaden 1979, S. 67.
[6] Pietschmann, Herbert: Aufbruch in neue Wirklichkeiten – Der Geist bestimmt die Materie. Stuttgart/Wien/Bern 1997, S. 176.
[7] Singer, Wolf: Der Beobachter im Gehirn. Frankfurt am Main 2002, S. 194.
[8] Schrödinger, Erwin: Geist und Materie. Wien / Hamburg 1986, S. 77.
[9] Auch die Naturwissenschaften postulieren Phänomene, die nicht direkt beobachtbar sind. So sind z. B. die Schwerkraft sowie subatomare Teilchen und Kräfte nur indirekt erschließbar, und ihre Erklärbarkeit ist abhängig vom Erklärungsmodell, also von der jeweiligen wissenschaftlichen Theorie.
[10] Dessoir, Max: Das Doppel-Ich. Berlin 1890.
[11] C. G. Jung hat diesen Mangel bemerkt. Er verwendet für die Gesamtheit aller bewussten und unbewussten psychischen Vorgänge den Begriff „Psyche“.
[12] Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. Zürich 198114, S. 591.
[13] Objektiv hier im Sinn von „nach außen gerichtet“.
[14] Zitiert nach Burney, C.: Tagebuch einer musikalischen Reise. Reprint der Ausgabe Hamburg 1772/1773, Kassel 2003, Bd. 1, S. 82. Siehe auch das Beispiel von Johannes Brahms in Abschnitt 5.
[15] Zum Beispiel nachzulesen bei Elias Howe (Doppelstich-Nähmaschine), Dmitri Iwanowitsch Mendelejew (Periodensystem), Ernest Rutherford (Prinzip der Atomzertrümmerung), August Kekulé von Stradonitz (Benzolring) oder Ibn Sina (wissenschaftliche Erkenntnisse im Traum). René Descartes berichtet von drei Träumen, die sein Leben verändert haben (siehe Descartes-Biographie von Adrien Baillet, 1691).
[16] Einstein, Albert, 1904 in einem Brief an Hadamard, abgedruckt in Hadamard, J.: The Psychology of Invention in the Mathematical Field. Princeton University Press, New York 1954. Original in Englisch, Übersetzung Alfred Bürgschwendtner: „Die Worte oder die Sprache, wie sie geschrieben sind oder gesprochen werden, scheinen keine Rolle zu spielen in meinem Gedankemechanismus. Die physischen Dinge, die als Elemente des Denkens zu dienen scheinen, sind gewisse Zeichen und mehr oder weniger klare Bilder, die ,willkürlich‘ wiedergegeben und verbunden werden können. Es gibt natürlich eine gewisse Verbindung zwischen diesen Elementen und den entsprechenden logischen Begriffen. Es ist auch klar, dass der Wunsch, schließlich zu logisch verbundenen Begriffen zu kommen, die gefühlsmäßige Grundlage dieses eher unklaren Spiels mit den oben erwähnten Elementen darstellt. Aber von einem psychologischen Gesichtspunkt aus gesehen scheint dieses Kombinationsspiel die wesentliche Form des produktiven Denkens zu sein – bevor es irgendeine Verbindung mit logischer Konstruktion in Worten oder anderen Arten von Zeichen gibt, die anderen mitgeteilt werden können.“
[17] Die medizinisch-philosophischen Grundlagen seines Begriffs vom „kollektiven Unbewussten“ fand Jung bei Carl Gustav Carus (1789–1869).
[18] Das Numinose: Der Begriff kommt von lat. numina = Wink, Geheiß, Wille, göttlicher Wille und wurde von C. G. Jung in die Analytische Psychologie eingeführt. Er bezeichnet das Unerkennbare, über das ein menschliches Bewusstsein nichts aussagen kann, den Archetypus (siehe Abschnitt 3) der Gottesvorstellung. Das Numinose kann nur in der Brechung durch ein begrenztes menschliches Bewusstsein erahnt werden. Seine Ausformung ist deshalb prinzipiell einem individuellen menschlichen Bewusstsein unterworfen. Das heißt: Die Gottesvorstellung, die jemand hat, sagt nichts über Gott aus, aber sehr viel über den Entwicklungsstand des jeweiligen Bewusstseins. Deshalb darf niemand seine Gottesvorstellung zum Dogma erheben, an das andere glauben sollen.
[19] Phylogenese: Die stammesgeschichtliche Entwicklung der Lebewesen.
[20] Ontogenese: Die Entwicklung eines Individuums von der befruchteten Eizelle bis zum Tod.
[21] Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart. In: Gesamtausgabe, Bd. II, Schaffhausen 1978, S. 70–172.
[22] Weizsäcker, Carl Friedrich von: Wahrnehmung der Neuzeit. München 1984, S. 141, S. 359.
[23] Verifikation: Bestätigung oder Nachweis der Richtigkeit einer wissenschaftlichen Hypothese.
[24] Falsifikation: Nachweis der Unrichtigkeit oder Widerlegung einer wissenschaftlichen Hypothese.
[25] Behaviorismus: Eine in den USA entwickelte sozialpsychologische Forschungsrichtung. Der Behaviorismus geht von erfahrbaren Tatsachen und ihrer Analyse aus. Sein Ziel ist ein System von Aussagen, das sich an wiederholbaren oder neuen Erfahrungen prüfen lässt. Anerkannt wird nur, was intersubjektiv überprüfbar, also von verschiedenen Personen nachvollziehbar ist.
[26] Archos griech. Beginn, Anfang. Jung benutzte den Begriff „Archetypus“ erstmals 1919 in „Instinkt und Unbewusstes“, GW, Bd. 8, S. 160 ff. Den Ausdruck entnahm er u. a dem „Corpus Hermeticum“, das Hermes Trismegistos zugeschrieben wird. Ich folge hier seiner Darstellung.
[27] Siehe Fußnote 1.
[28] Eibl-Eibesfeldt, Irenäus / Sütterlin, Christina: Weltsprache Kunst – Zur Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation. Wien 2007.
[29] A. a. O., S. 27 ff.
[30] Siehe Fußnote 1.
[31] Intuition (von lat. intueri = betrachten, erwägen): Eine spontane Eingebung oder Einsicht aus dem Unterbewusstsein.
[32] Reste davon sind in der Messe z. B. der orthodoxen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche erhalten geblieben, während die reformierten Kirchen diese Möglichkeit weitgehend ausgeblendet haben.
[33] Von Piaget in zahlreichen Veröffentlichungen dargestellt, so z. B. in Piaget, Jean: Jean Piaget über Jean Piaget – Sein Werk aus seiner Sicht. München 1981. Siehe auch Furth, Hans G.: Piaget and Knowledge. New Jersey 1969. Deutsch: Intelligenz und Erkennen – Die Grundlagen der genetischen Erkenntnistheorie Piagets. Frankfurt am Main 1972.
[34] Damit widerlegt Piaget die Widerspiegelungstheorie des Marxismus-Leninismus.
[35] Piaget, Jean: La formation du symbole chez l’enfant – Imitation, jeu et rêve – Image et représentation. Neuchâtel 1959. Deutsch: Nachahmung, Spiel und Traum – Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde. Stuttgart 1975. Piaget setzt sich hier mit den drei großen Schulen der Tiefenpsychologie (Freud, Adler, Jung) auseinander. Jedes Verhalten ist sich seiner Ergebnisse bewusst, kennt aber in der Regel seine Mechanismen nicht.
[36] Dieser Gedanke erschreckt angesichts der Tatsache, dass wir alle, also auch die Kinder bei unkontrolliertem Medienkonsum ständig unbewusste Denk- und Handlungsstrukturen ausbilden.
[37] Man denke z. B. an die frühkindliche, ja sogar pränatale musikalische Prägung durch jene Musik, welche die Eltern bevorzugt hören.
[38] Eibl-Eibesfeldt, Irenäus / Sütterlin, Christina: a. a. O., S. 237.
[39] Aus van Goghs späterer Phase gibt es nur einen einzigen belegten Verkauf eines Bildes.
[40] Siehe Fußnote 18.
[41] Zitiert nach Joachim Risch, http://www.schoepfung2000.de/haydn2000.htm. Siehe auch das Dokument von J. Brahms am Ende dieses Beitrags.
[42] Eco, Umberto: Opera aperta. Mailand 1962. Deutsch: Das offene Kunstwerk. Frankfurt am Main 1977, S. 60.
[43] Böckle, Roland: a. a. O., S. 16.
[44] Imagination: Vorstellungskraft, Schöpfungskraft.
[45] Damit wird deutlich, dass es keine universell gültige Musiksprache geben kann, wie der Musikpsychologe Reinhard Kopiez (geb. 1959) überzeugend darlegt. Siehe Kopiez, Reinhard: Der Mythos von Musik als universell verständliche Sprache. In: Bullerjahn, Claudia / Löffler, Wolfgang: Musikermythen – Alltagstheorien, Legenden und Medieninszenierungen. Zürich / Hildesheim / New York 2004, S. 49 ff. Allerdings ist der gemeinsame Hintergrund des kollektiven Unterbewusstseins nach meiner Kenntnis bisher nicht untersucht worden. Liegt die universell gültige Musiksprache vielleicht auf der Ebene der Archetypen?
[46] Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: Ritter Gluck. In: Musikalische Novellen. ND Wien 1944, S. 56.
[47] Der Geiger und Musikkorrespondent der „Associated Press“ und der „Press of Great Britain“ Abell 1896 im persönlichen Gespräch mit Johannes Brahms und Joseph Joachim, im genauen Wortlaut dokumentiert von einem Stenografen. Abell, Arthur M.: Talks with great Composers. New York 1955. Deutsch: Gespräche mit berühmten Komponisten – Über die Entstehung ihrer unsterblichen Meisterwerke, Inspiration und Genius. Haslach 19946, S. 53, S. 55 f. Äußerungen dieser Art werden allerdings oft skeptisch kritisiert, so bezeichnet etwa Claudia Bullerjahn den zitierten Text als „obskures Interview“ und bezweifelt den Wert solcher Selbstzeugnisse. (Vielleicht, weil sie in ein reduktionistisches Weltbild nicht passen?) Siehe Bullerjahn, Claudia: Der Mythos und das kreative Genie. In: Bullerjahn, Claudia / Löffler, Wolfgang, a. a. O. S. 126.