Gut und böse

Das Böse lebt nicht in der Welt der Menschen. Es lebt allein im Menschen. (Laotse, 6. Jh. v. Chr.)

Roland Böckle

Was ist „gut“? Was ist „böse“? Wer bestimmt, was „gut“ oder „böse“ ist?

Die Frage nach „Gut“ oder „Böse“ ist sinnlos, solange man kein Kennzeichen für „Gut“ oder „Böse“ angibt. [...] „Es gibt keine Möglichkeit, normative Sätze durch Kognition als wahr (und damit intersubjektiv verbindlich) zu erweisen.1

Das Gute ist eine von einem Menschen vorgenommene Bewertung, die sich aus den Erfahrungen im gesellschaftlichen Leben ergeben, an denen er selbst teilnimmt. Der Verstand des Menschen zieht aus gewissen Erfahrungen immer dieselben Schlussfolgerungen. Diese können diskutiert und in einer Gesellschaft intersubjektiv anerkannt werden. Die Bewertung, was „gut“ oder „böse“, was recht und unrecht sei hängt in hohem Maß von den jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Konventionen ab und spiegelt die jeweilige Entwicklung des Bewusstseins der Menschen einer bestimmten Subkultur wider. Man kann Wertmaßstäbe nicht auf eine andere Ebene bringen, wenn nicht zugleich das menschliche Bewusstsein auf diese andere Ebene gehoben wird. (Man vergleiche dazu die unterschiedliche Bewertung des Tötens in den verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten.)

Zur Transformation des Bewusstseins leisten die Religionen seit Jahrtausenden einen entscheidenden Beitrag. Alle Verhaltensweisen und alle Beziehungen, die zu einer Vereinigung mit dem Göttlichen führen können, erscheinen dem Bewusstsein des Menschen als das Gute. Es gibt eine auffallende Übereinstimmung zwischen den Religionen der Inkas und Mayas, andererseits der Ägypter, Babylonier und antiken Griechen. Tempel, Altäre und Inschriften lassen die gleiche Entwicklung des Denkens und Empfindens der Völker auf einer entsprechenden Stufe ihrer kulturellen Entwicklung erkennen.

"Der religiöse Glaube findet Antworten auf wichtige Fragen des Seins, für die man keinen2 rationalen Beweis hat. Formulierungen, die von anderen geschaffen wurden und die man akzeptiert, weil man sich diesen anderen unterwirft, nehmen einem die schwierige Aufgabe ab, selbst zu denken und Entscheidungen zu treffen."3

[Dieser Glaube ist] "eine Krücke für all jene, die einen Sinn im Leben finden wollen, ohne den Mut zu haben, selbst danach zu suchen."4

Die Beschäftigung mit den Weisheitslehren der Religionen kann aber auch dazu anregen, für sich selbst eine überzeugende eigene Ethik zu fin­den.

Dafür Beispiele aus den Lehren des Jainismus5:

Der Mensch ist Meister für sein eigenes Leben. Gelingt es ihm, Herr über seinen Hass und seine Leidenschaften zu werden, wird er alles vermeiden, was Frieden, innere Harmonie,  und Lebensfreude stören könnte und die Lebensrechte aller Lebewesen anerkennen.6 Seine Ziele sind Liebe für alle Lebewesen, Mitgefühl, Unparteilichkeit, Gerechtigkeit, Harmonie, Wahrheit, Vermeidung jeglicher Gewalt, Vermeidung jeglicher Störung eines anderen Lebewesens. Wer diese Religion studiert, wird zahlreiche Anregungen finden, ein neues Wissen zur Grundlage seines Handelns zu machen.

Auszug aus den Gelübden, die ein Laienanhänger im Jainismus leisten muss:

·   Ich werde kein lebendes Wesen verletzen, sei es bewusst oder unbewusst.

·   Ich werde keine verkehrten Worte gebrauchen, die irgendjemanden verletzen oder ihm Schaden zufügen könnten oder durch die jemand unrechtmäßigen Gewinn erlangen könnte.

·   Ich werde mir nie Dinge aneignen, die anderen gehören.

·   Ich werde keinen sexuellen Verkehr mit fremden Frauen (bzw. Männern) pflegen.

·   Ich werde mich in meinem Erwerbsstreben beschränken und ein Zuviel davon zu wohltätigen Zwecken verwenden.

·   Ich werde den Bereich meiner Tätigkeiten einschränken und nie über ein gewisses Maß hinausgehen.

·   Ich werde die Dinge, die dem Verzehr dienen, einschränken.

·   Ich werde keine bösen Gedanken pflegen und werde auch nie jemandem sündhaften oder ihm nachteiligen Rat geben.

·   Ich werde keine Kriegswaffen herstellen und werde mich auch nicht an zwecklosen Gesprächen beteiligen.

·   Ich werde wenigstens einmal im Jahr einen vollen Tag fasten, und dies auch ohne Wasser; worauf dann am nächsten Tag ein Essen zubereitet werden soll, zu dem auch mein Lehrer eingeladen wird.

Das Studium der Weisheitslehren der verschiedenen Religionen macht eines besonders deutlich: Das Böse entspringt dem Geist des Menschen. Wie man denkt, so wird man sein und handeln. Wer gütig, aufrichtig, wahrheitsliebend, großzügig, versöhnlich und tolerant ist, wird keinen Grund finden, einem anderen Lebewesen Schaden zuzufügen. Wer sich von solch innerer Überzeugung leiten lässt, wir nicht anders handeln.

Interessant ist die Meinung Maturanas dazu: "Niemand kann [...] rational von einer Wahrheit überzeugt werden, die nicht bereits implizit in seinen Grundauffassungen enthalten war."7

Das Christentum und das Judentum haben mit den Zehn Geboten die Kulturgeschichte Europas entscheidend geprägt. Die Zehn Gebote sind als direkte Rede Gottes an das Volk der Israeliten formuliert, und fassen Gottes Willen für das Verhalten ihm und den Mitmenschen gegenüber zusammen. Die Bibel fügt darüber hinaus noch das Gebot der Nächstenliebe hinzu. Bereits im dritten Buch Moses steht im Alten Testament, also auch für Juden verbindlich "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." (Lev, 19, 188). Jesus erweitert dieses Gebot auf alle Menschen, also auf Nichtjuden und Feinde. (Matth. 22, 39). An wichtiger Stelle steht die Liebe (1. Kor. 13, 13).

Im Islam ist der Koran die erste und unstreitige Quelle islamischer Gebote. Daneben werden in fast allen Richtungen des Islam Überlieferungen der Worte und Handlungen Mohammeds als Quelle göttlicher Gebote anerkannt, weil dieser als der Gesandte Gottes gilt. Wo diese Quellen nicht ausreichen, wird auf Analogieschlüsse und traditionellen Konsens zurückgegriffen. Durch diese Tradition wurde eine Vielzahl zur Zeit Mohammeds verbreiteter Bräuche Teil der islamischen Normen. Dabei spielt wohl die Annahme eine Rolle, dass Bräuche, die Mohammed als Gesandter Allahs billigte, den göttlichen Geboten entsprächen. Religiöse und sittliche Normen sind im klassischen Islam Teil der Scharia, also des islamischen Rechts. Bei dessen Auslegung durch die islamische Rechtswissenschaft wird aber oft ein Interpretationsspielraum eingeräumt. Vor allem in der Adab-Literatur9 wurden über die Scharia hinausgehende Regeln richtigen Verhaltens weitergegeben.

Auch nach islamischer Vorstellung ist gut stets das, was Gott befiehlt, und schlecht/böse das, was er verbietet.10

Im Buddhismus bezeichnen die Fünf Silas die grundlegenden Übungsregeln zur Entwicklung von Sittlichkeit.

Beim Eintritt in einen buddhistischen Orden legt der Novize ein formales Gelübde ab, diese fünf Tugendregeln einzuhalten. Auch buddhistische Laienanhänger können diese Regeln auf sich nehmen. Im Theravada-Buddhismus wird dazu der folgende Text gesprochen:

1.  Ich gelobe, mich darin zu üben, kein Lebewesen zu töten.

2.  Ich gelobe, mich darin zu üben, nichts zu nehmen, was mir nicht gegeben wird.

3.  Ich gelobe, mich darin zu üben, keine ausschweifenden sinnlichen Handlungen auszuüben.

4.  Ich gelobe, mich darin zu üben, nicht zu lügen und wohlwollend zu sprechen.

5.  Ich gelobe, mich darin zu üben, keine Substanzen zu konsumieren, die den Geist verwirren und das Bewusstsein trüben.

Buddhistische Lehrmeister betonen, dass es sich bei den Fünf Silas nicht um Gebote oder Verbote im Sinne eines Gesetzes, sondern um sittliche Orientierungspunkte handelt, mit denen sich die Übenden täglich (von Augenblick zu Augenblick) und ein ganzes Leben lang auseinandersetzen.

Auch die Mystik beschäftigt sich mit ethischen Normen, so zum Beispiel die Rosenkreuzer AMORC11:

"Sei geduldig, denn die Geduld nährt die Hoffnung, und die Zeit wird zum Gefährten auf dem Pfade des Lebens.

Habe Vertrauen, denn das Selbstvertrauen ist eine Quelle zur Entfaltung, und das Vertrauen zu den anderen wird zur Quelle der Freundschaft.

Sei maßvoll, denn Mäßigkeit hindert jegliches Übermaß und verschafft Beruhigung.

Sei tolerant, denn Toleranz erweitert den Geist und begünstigt zwischenmenschliche Beziehungen.

Sei gelöst, denn Loslassen gewährt Freiheit und fördert inneren Reichtum.

Sei großzügig, denn Großzügigkeit bereichert Schenkende und Beschenkte.

Sei rechtschaffen, denn Rechtschaffenheit bewirkt ein reines Gewissen und verleiht Ausgeglichenheit.

Sei bescheiden, denn man wächst durch Bescheidenheit, und sie vermittelt die Achtung der anderen.

Habe Mut, denn im täglichen Leben ist Mut aufbauend und gibt Kraft bei Widrigkeiten.

Sei gewaltlos, denn Gewaltlosigkeit fördert die innere Harmonie und verbreitet Frieden für alle Wesen.

Niemals soll jemand durch dein Tun geschädigt werden.

Sei wohlwollend, denn Wohlwollen erfreut das Herz und verschönert die Seele.

Wenn Du dies beherzigst, wird man Dich als Weisen bezeichnen, denn Weisheit ist gleichbedeutend mit der Anwendung dieser Tugenden.“

In vielen Religionen wird das von den Menschen begangene Böse als eine unheilvolle Wesenheit mit eigener Existenz personifiziert.

So wird die Gottheit mit ihrem Gegenteil verbunden. Auf der einen Seite stehen Ordnung, Harmonie und Licht, repräsentiert durch Gott, auf der anderen Seite gibt es Unordnung, Chaos und Finsternis, repräsentiert durch den Teufel, eine böswillige Macht, die in Gegnerschaft zu Gott steht.

Tatsächlich existiert der Teufel als spirituelles Wesen jedoch nicht – weder um uns Schaden zuzufügen noch um unsere Seele in Besitz zu nehmen. Der Teufel existiert im Menschen selbst, wenn dieser seinen freien Willen auf negative Art einsetzt, um zerstörerische, gewalttätige, perverse oder anderweitig böse Missetaten zu begehen. Auch existieren keine Dämonen, die im Dienst des Teufels stünden. Niemand kann also gegenüber dem Satan noch gegenüber dämonischen Geistern Schutz anbieten.

In der Bibel wird der Teufel genannt, aber nicht als existierendes Wesen beschrieben. Die Genesis spricht nirgends von einem Fall von Engeln. In der christlichen und islamischen Theologie spielt der Teufel eine besondere Rolle als Personifizierung des Bösen. Führende Kirchenlehrer, Päpste und Reformatoren charakterisieren den Teufel auch als real existierende Person mit dem Namen Satan. Der hebräische Begriff „Satan“ hat jedoch eine entscheidend andere Bedeutung als im biblischen Christentum.

Allerdings haben diese Annahmen über den Teufel weder in der hebräischen Bibel oder im Judentum ihren Ursprung, noch wurden sie zu Lebzeiten des Jesus von Nazareth gelehrt. Vielmehr entstammen sie den volkstümlichen mythologischen Vorstellungen des Mittelalters und einer damaligen Lesart der biblischen Schriften.

Viele der christlichen Teufelsvorstellungen gehen auf das Neue Testament12 zurück. Dort wird der Teufel als "Der große Drache, die uralte Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas" (Offenbarung 12,9) und "Fürst, der in der Luft herrscht" (Epheser 2,2) bezeichnet. In Offenbarung 12,9 und 20,2 wird der Satan als die alte Schlange bezeichnet. Auch die Aussage Jesu aus dem Johannesevangelium (8,44) stützt dies, weil dort der Teufel und nicht die Schlange als der Vater der Lüge bezeichnet wird.

Ebenfalls im Neuen Testament wird der Satan bezeichnet als ein Engel, der sich zum Licht verstellt (2. Korintherbrief 11,14) und als personifiziertes Geistwesen vorgestellt, das stets als Teufel agiere. So heißt es: „Der Teufel sündigte von Anfang an“ (1. Johannesbrief 3,8). Und außerdem war er "ein Mörder von Anfang an und ist nicht bestanden in der Wahrheit, denn die Wahrheit ist nicht in ihm“ (Johannes 8,44).

In der gegenwärtigen theologischen Reflexion wird das christliche Verständnis der Figur des Teufels so gut wie nicht mehr thematisiert. Selbst wenn an der Existenz des Teufels im Katechismus der Katholischen Kirche festgehalten wird und Papst Johannes Paul II. während seines Pontifikates sie wiederholt bekräftigt hat, gibt es keine dogmatische Definition des Teufels.

Lucifer, ist der lateinische Name des Morgensterns (Venus). Wörtlich übersetzt bedeutet er „Lichtträger“. Im Lauf der Zeit wurde im christlichen Sprachgebrauch der Begriff „Luzifer“ gleichbedeutend mit einem der Namen des Teufels.

Nach dem christlichen Verständnis, gewisser Auslegungen und mancher Bibelübersetzungen wird Satan als ein bestimmter Engel angesehen, der eigenwillig gegen Gott rebellierte und als gefallener Engel aus dem Himmel verstoßen wurde. Satan habe nach christlicher Auffassung durch die Schlange im Garten Eden gesprochen und Eva zur Sünde verführt.

Nach christlichen Vorstellungen ist der Teufel des Alten Testaments der Versucher der Menschen.

Satan ist im christlichen Kulturkreis auch als Teufel, Herr der Finsternis, Herr der Hölle, Höllenfürst, Beelzebub, Luzifer und Mephistopheles bekannt.

Im Islam ist Iblīs der höchste Teufel oder höchste böse Dämon. Der Begriff „Satan“ hat im Islam sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zu denjenigen des Judentums oder Christentums.

Um den Versuch, Ethik zu begründen, ringen Denker von Ost und West seit Jahrhunderten. Einige Beispiele für jene Fragen, mit denen sie sich beschäftigt haben:

"Das Gute zu tun" muss den Menschen in physischer, intellektueller und psychischer Hinsicht befriedigen.

"Gutes zu tun" soll gesellschaftlich belohnt werden, soll aus sich selbst heraus Belohnung sein.

Nach dem Tod wird man belohnt oder bestraft, wie schon die alten Ägypter lehrten.

Sind es die Aufgaben der Ethik, Kriterien für gutes und schlechtes Handeln und die Bewertung seiner Motive und Folgen aufzustellen?

Lässt sich das Sittliche durch Denken begründen?

Kann man ein Grundprinzip finden, aus dem sich ethisches Handeln ableiten lässt?

Kann man Ethik darauf gründen, dass sie sich auf das Wohlergehen des anderen zu richten hat?

Ist Ethik eine Anpassung an Normen, die das Allgemeinwohl verteidigen?

Entscheidet das Gewissen über „Gut“ und „Böse“?

Übernimmt der Mensch gewohnheitsmäßig und vielleicht sogar unbewusst die von der Gesellschaft geschaffenen Normen?

Ist Ethik eine Norm zur Regelung der Beziehung zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft?

Ist das „Gute“ ebenso evident wie eine mathematische Wahrheit? Ist das Sittengesetz in der menschlichen Vernunft verankert, weil es das logisch Richtige ist?

Soll man das Gute um des Guten willens tun?

Sind „Gut“ und „Böse“ nur deshalb erfunden, um den Einzelnen der Menge dienstbar zu machen?

Ist Ethik ein Wollen, das uns über uns selbst erhebt?

Strömen in das abendländische Denken die Energien aller großen Weltanschauungen ein?

"Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern, böse ist Leben vernichten und Leben hemmen."13

Am bekanntesten ist wohl der Versuch Kants, das grundlegende Prinzip der Ethik mit dem Kategorischen Imperativ als gebietende Pflicht zu begründen: „Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.14

"Das Ethische besteht darin, dass der Wille nicht subjektive, das ist eigennützige Interessen, sondern allgemeine Inhalte zu seinem Zweck hat."15

Ethik ist das Besinnen auf alles, was zum wahren Menschentum gehört.

Albert Schweitzer stellt jedoch abschließend fest: "Es gibt keine wissenschaftliche, sondern nur eine denkende Ethik. Die Philosophie muss die Illusion, die sie bis auf den heutigen Tag gepflegt hat, aufgeben. Von dem, was gut und böse ist, [...] kann keiner zum andern als Gelehrter reden."16 "Wissenschaft ist nur die Geschichte der Ethik und diese nur insoweit, als eine Geschichte des Geisteslebens wissenschaftlich möglich ist."17

Wir dürfen uns nicht anmaßen, dem unendlichen Universum einen auf die Menschen zielenden, durch unsere Existenz erklärbaren Sinn beilegen zu wollen.18

Demnach ist es nicht möglich, Ethik wie eine Naturwissenschaft zu betreiben.

Die katholische Kirche rückt das Gewissen an eine wichtige Stelle: "Über dem Papst als Ausdruck für den bindenden Anspruch der kirchlichen Autorität steht noch das eigene Gewissen, dem zuallererst zu gehorchen ist, notfalls auch gegen die Forderung der kirchlichen Autorität." Mit dieser Herausarbeitung des Einzelnen, der im Gewissen vor einer höchsten und letzten Instanz steht, die dem Anspruch der äußeren Gemeinschaften, auch der amtlichen Kirche, letztlich entzogen ist, ist zugleich das Gegenprinzip zum heraufziehenden Totalitarismus gesetzt und der wahrhaft kirchliche Gehorsam vom totalitären Anspruch abgehoben, der eine solche Letztverbindlichkeit, die seinem Machtwillen entgegensteht, nicht akzeptieren kann.19

"Das menschliche Bedürfnis nach gegenseitigem Respekt und Vertrauen ist nicht auf eine Ideologie gegründet, die sich aus irgendeinem System angeblich absoluter Werte ergibt. Dieses Bedürfnis ist ein biologisches Bedürfnis, das für die menschliche Situation konstitutiv ist, und das befriedigt werden muss, wenn der Mensch Mensch bleiben soll. Es ist die einzig legitime Quelle jeder Ethik und gleichzeitig deren invariante Bezugsgröße. Wir sollten uns nicht selbst täuschen: es gibt keinen anderen Maßstab für das Wohlergehen des Menschen als den Menschen, wenn wir menschliches Wohlergehen wünschen. Die Vernunft braucht eine irrationale Basis in der Erfahrung. Könnten wir das akzeptieren, dann würden wir vielleicht auch die Verantwortung für all das Gute und Böse auf uns nehmen, das wir uns selbst und den Menschen zufügen, ohne nach trügerischen transzendentalen Werten zu suchen, um unsere Blindheit zu rechtfertigen."20  Dieser Gedanke wurde unter anderem in der chinesisch-buddhistischen Religionsgeschichte ausgeweitet: "Seid menschlich mit den Tieren, tut auch den Insekten, den Pflanzen und den Bäumen nicht weh."21

Als Adam und Eva vor dem Baum der Erkenntnis standen, sagte die Schlange zu ihnen: "... [ihr] werdet sein wie Gott und wissen was gut und böse ist" (Genesis 3,5). Damit wird symbolisch ausgedrückt, dass der Mensch mit der Gabe des Selbstbewusstseins auch die Verantwortung für sein Handeln übernommen hat.

1        Rüssmann, Helmut (1978): Kognitive Ethik? – Die Frage nach der Wahrheit normativer Sätze. In: Peter M. Hejl/Wolram K. Köck/Gerhard Roth (Hg.): Wahrnehmung und Kommunikation, S. 283.

3        Siehe Fromm, Erich (2976): To Have ot to Be? (deutsch 1976:) Haben oder Sein? – Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Stuttgart, S. 49 f.

4        Fromm, a. a. O., S. 50.

5        Jainismus, eine in Indien beheimatete Religion, begründet wahrscheinlich im 6. Jh. v. Chr.

6        Dies ist eine Vorwegnahme von Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben. Siehe Schweitzer, Albert (1923): Kultur und Ethik,  München, S. 227 ff.

7        Maturana, Humberto R. (1982, 1985): Biologie der Kognition. In : Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig/Wiesbaden, S. 80.

8        Bibelzitate nach der Übersetzung von Martin Luther.

9        Adab-Literatur: Vorislamische Gedichte und Stammeserzählungen, auch die Literatur für die gebildeten Bürger des islamischen Mittelalters.

10      Anzes, Peter / Duran, Khalid / Nagel, Tilmann (1991): Der Islam, Religion, Ethik, Politik, Stuttgart.

11      AMORC: Anticus mysticusque ordo rosae crucis = Der alte und mystische Orden vom Rosenkreuz., Baden-Baden.       
http://www.rosenkreuzer.de/fileadmin/amorc/PDFs/AMORC_Anzeige_ethische_grundsaetze.pdf

12      Bibelzitate nach der Übersetzung von Martin Luther.

13      Schweitzer, a. a. O., S. 229.

14      Kant, Imanuel (1788): Kritik der praktischen Vernunft. Riga, S. 54.

15      Hegel, Friedrich (1817): Encyklopedie der philosophischen Wissenschaften, Heidelberg, S. 359.

16      Schweitzer, Albert (1923): a. a. O., S. 19f.

17      Schweitzer, a. a. O., S. 19

18      Schweitzer, a. a. O.,  S. 192.

19      Ratzinger, Josef: Kommentar zu Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 14, 329 f.

20      Maturana, Humberto R. (1982, 1985): Biologie der Kognition. In : Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig / Wiesbaden, S. 31.

21      Taishang ganying pian (Abhandlung über Tat und Vergeltung, um 1100) In: Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft. 1909.