Wollen wir das wirklich?

Zertifikate bekommen in kürzester Zeit mehr Raum als irgendeine Reform des heimische Schulsystems in der Vergangenheit. Problemlos hält firmenspezifisches Wissen Einzug in Lehrpläne, das auch dem treuesten Protagonisten dieser Firma unter den Lehrern nicht im Traum als Prüfungsstoff eingefallen wäre.


Franz Fiala Warum ich Lehrer wurde


Was sind Zertifikate?

Zertifikate sind ein Phänomen der Informationsgesellschaft und betreffen facheinschlägige Gegenstände; allgemeiner Grundlagenunterricht ist (zunächst) nicht betroffen.

Ein Zertifikat bestätigt Kenntnisse in einem genau beschreibbaren Wissensgebiet, genauer sollte man sagen, in einem produktbezogenen Wissensgebiet. Beispiel: MCSE (Microsoft Certified Systems Engineer) besteht aus 6 Prüfungen, die sich alle auf bestimmte Microsoft-Produkte beziehen.

Zertifikate vermitteln hauptsächlich

gebundenes Wissen. Dieses Wissen verjährt mit dem Erscheinen der jeweils nächsten Programmversion und ist von vornherein unbrauchbar bei einem Konkurrenzprodukt.


Beispiel ADIM-Skripten, Programmiersprachen

Die vielen PCNEWS-Lesern bekannten ADIM-Skripten z.B. bemühen sich, eine Fertigkeit, z.B. die des Programmierens in einer Computersprache in der jeweils aktuellen Version eines Compilers darzustellen. Man könnte sie daher auf den ersten Blick mit den Zertifikaten vergleichen.

Der Unterschied für den unterrichtenden Lehrer liegt aber darin, dass er - zumindest solange der Vorrat reicht - diese Skripten in der jeweils gewünschten Version verwenden kann, und dass immer die grundlegende Programmiertechnik im Vordergrund steht und nicht die Implementierung einer Sprache durch eine Firma. Im Gegenteil: üblicherweise weist man im Unterricht darauf hin, wo die Trennlinie zwischen Sprachstandard und Firmenimplementierung liegt. Benutzt man firmenspezifische Funktionen, geht man eine existentielle Verbindung mit dem Anbieter ein, ein Compilerwechsel wird zu einer sehr mühsamen Lern-Angelegenheit. Eine universelle Ausbildung benutzt einen Compiler nur beispielhaft, die Eindringtiefe hinterlässt nicht den Eindruck einer Abhängigkeit.

Diese Wahlfreiheit gibt es bei Zertifikaten nicht. Man erlernt nicht vordergründig eine Computersprache, z.B. die Sprache C, sondern man erwirbt ein Zertifikat für Microsoft Visual C++ Version 6.0 und kann zu einem bestimmten Zeitpunkt auch gar kein anderes Zertifikat erwerben – z.B. jenes für die Version 5.0, weil das an der Schule verfügbar ist – weil das jeweils ältere Wissen durch das neuere ersetzt wird.


Vorgeschmack auf den Stoff

Wer sich im Detail für die Art der Fragen interessiert, dem hat Fritz Eller Anfang 1998 bereits einen Vorgeschmack im Beitrag "40 Fragen zu Windows-95" gegeben. Nachzulesen unter http://pcnews.at/ins/pcn/56/07800/main.htm


Welche Zertifikate gibt es?

An dieser Stelle sollten jene Zertifikate stehen, die in den ersten Diskussionsrunden vorgestellt wurden. Es zeigte sich jedoch bald, dass es eine viel größere Zahl gibt und allein das unvollständige Erfassen bedeutet einen Eingriff mit hohen Konsequenzen für die späteren Marktanteile. Daher wurden – und auch diese nur sind nur beispielhaft zu verstehen – die Zertifikate von 13 Firmen in einem eigenen Beitrag weiter hinten dargestellt.


Nur die Großen kommen durch

Nur Firmen mit einer ausreichenden Größenordnung, im allgemeinen handelt es sich um multinationale Konzerne, haben die Möglichkeit, ihre Produkte in Form von Zertifikaten abzusichern (eigentlich ist es eine publizierte Mitarbeiterschulung). Alle grundlegenden Verfahren ohne Lobby oder kleinere Produkte sind nicht vertreten. Einbeziehung von Zertifikaten im Unterricht begünstigt daher Monopolbildung in einer ganz neuen Form.


Schule und Zertifikate

Derzeit wird die Position der Schule gegenüber den zahlreichen Zertifikaten diskutiert. Die Euphorie überwiegt, Lehrpläne werden bereits nach Einbettungsmöglichkeiten für die neuen Inhalte untersucht.

Die Vorteile für die Absolventen, für die Schulbehörde, für den Schulstandort werden derzeit höher als die Nachteile bewertet, doch hat die Art der Einführung heute vielleicht ungeahnte Auswirkungen auf die Schule von morgen, vielleicht auch in Nicht-IT-Fächern.

Wir wären daher gut beraten, die vielschichtigen Auswirkungen auf das hiesige Schulsystem zu diskutieren, bevor wir auf diesen Zug endgültig aufspringen. Denn diese Begegnung ist nicht nur eine fachliche Herausforderung für die Schule und die Lehrer. Es ist auch die Begegnung mit einem völlig anderen Schulsystem, mit einer anderen Kultur.


Kulturelle Begegnung

Die Zertifizierungen kommen überwiegend aus den USA, der ECDL kommt aus Skandinavien. Beide Regionen sind für diese Schulform bekannt. In diesen Ländern ist eine zentralisierte Prüfung am Jahresende etwas ganz Normales, dort ist diese Unterrichtsform gewachsen. In unseren Breiten besteht aber eine andere Schulkultur; die Form der Integration der Zertifikate wird auf unser Schulsystem abfärben, daher sollten wir die Form mit Bedacht wählen. Wie weit dieses Schulsystem bereit ist zu gehen, entnehmen Sie einer Übersetzung eines Artikels über die amerikanischen Carter Schools.


Einschränkung der Wahlfreiheit

Ob wir bei McDonald's essen gehen oder Microsoft-Produkte kaufen, ist eine Entscheidung, mit der wir die Marktposition des Produkts beeinflussen, vielleicht in dem Anteil wie ein Wähler die Nationalratswahlen beeinflusst.

Wenn aber in Hotelfachschulen die Zubereitung von "ChickenMcNuggets" Prüfungsstoff wird und in HTLs der genaue Aufbau der Registry von Windows 2000, dann ist das wie der Verlust des Wahlrechts, denn das mit viel Mühe erworbene Detailwissen über McNuggets oder das Betriebssystem widersetzt sich natürlich wie alles einmal Erlernte dem Ersatz durch etwas Neues. Der Absolvent kennt eine bestimmte Rezeptur und bleibt dabei. Seine Wahlfreiheit im Beruf hat er damit aufgegeben und wir haben das noch unterstützt.

Der Vorteil für die anbietenden Firmen ist derart groß, dass es der staatlichen Institution Schule nicht allzu gut zu Gesicht steht, ihnen diesen Platz im Bildungssystem einzuräumen.


Unterricht als industrieller Prozess

Zertifikate verstehen Unterricht als industriellen Prozess, der zu einem hohen Ausmaß standardisiert wird. Er fertigt Absolventen genauso wie die ein Automobilbetrieb ein Auto oder eine Fast-Food-Kette einen Hamburger. Wissensdefinition und Prüfung werden zentralisiert, der Lehrer wird davon entlastet.

Das Problematische daran ist, dass lebende Menschen mit einem Mitspracherecht in der Produktionsmühle sitzen. Aus der Sicht eines Lehrers sind die Chancen der Absolventen zu maximieren sind und nicht die Profite der Firmen.

Mit einer Integration der Zertifikate "as is" als Teil des Unterrichts wird zumindest zu diesem Teil die Wertigkeit umgedreht, der Firmenprofit zählt mehr.

Es kann auch sein, dass die aktuellen Schwierigkeiten bei der Finanzierung unseres Schulsystems Anlass sind, jede sich anbietende Chance zur Kostenreduktion zu nutzen.


Firmenvorteile


Folgen für den Unterricht


Folgen für den Lehrer


Folgen für die Absolventen


Folgen für Schulen


Der Stoff

Die Art der Wissensaufbereitung ist nicht darauf ausgerichtet, Verständnis oder Einsichten zu begründen, Fragen nach dem Warum zu beantworten; es geht nur um Faktenwissen. Das eigentliche Wissen bleibt der Zentrale vorbehalten.


Details der Prüfung

Die folgenden Erfahrungen aus der Prüfung stammen aus dem 1. Semester des CISCO-Zertifikats. Es gibt zum Beispiel Zeitvorgaben, Multiple-Choice-Antworten und wahrscheinlich auch noch andere Besonderheiten.

Fraglos ist die Prüfung sehr effizient. Die Aufsicht kann eigentlich jeder übernehmen, eine Qualifikation braucht der Prüfer nicht.


Universalität oder Spezialisierung?

Lehrer werden täglich mit der Frage konfrontiert, welchen Stellenwert der gerade besprochene Stoff im späteren (Berufs)-leben haben wird.

Eine übliche Antwort war bisher, dass man etwa 10 Prozent davon brauchen wird können, aber nur nicht weiß, welche 10 Prozent das sind. Sogar anerkannte Konstruktionslehrer zweifeln angesichts der vielgestaltigen Berufsbilder ob der Sinnhaftigkeit, ganz bestimmte Details ihrer Gegenstände wie früher zu gewichten und als wissenswert einzufordern.

Berufsschulen bilden Automechaniker aus aber nicht Mechaniker für eine bestimmte Automarke - obwohl: für eine Werkstätte, die sich auf eine bestimmte Autotype spezialisiert hat, wäre es natürlich bequem, gleich einen dafür spezialisierten Mechaniker zu bekommen.

Vergleichen wir typische Texte eines Stellenbewerbers mit der Beschreibung  eines offenen Arbeitsplatzes: der Stellenbewerber bietet alles, was ihm nur irgendwie einfällt, um sich als möglichst vielseitig einsetzbar zu präsentieren, als "Universalist". Der Arbeitsmarkt sucht aber immer jemanden, der nicht erst eingeschult werden muss, jemanden, der möglichst auch schon die Passwörter der Firma kennt, einen "Spezialisten".

Wenn wir von Absolventen spätere Flexibilität am Arbeitsplatz fordern, müssen wir ihnen die Grundlage dazu vermitteln. Und die heißt Universalität und nicht Spezialisierung.


Wollten wir nicht Lernen-Lernen lehren?

Andre Gide: "Ein guter Lehrer hat nur eine Sorge: zu lehren, wie man ohne ihn auskomme."

George Orwell: "Der beste Lehrer ist jener, der sich nach und nach überflüssig macht."

Eine Firma will gerade das nicht, sich überflüssig machen.

Die Idee, jemandem das Lernen beizubringen wird durch die Zertifikate endgültig begraben.


Was spricht eigentlich gegen ältere Versionen?

Je älter eine Programmversion ist, die man im Unterricht verwendet, die gerade noch die grundlegenden Elemente zeigen kann, die vermittelt werden sollen, desto größer die Effizienz, denn der Blick auf diese wesentlichen Elemente wird nicht verstellt und hinter Wizzards und andere Dernier Cris.


Wurzeln des Erfolgs von Zertifikaten

Eigentlich könnte sich die öffentliche Schule aus dem Geschäft mit den Zertifikaten heraushalten. Es handelt sich um Fähigkeiten, die flexible Absolventen ohnehin in kürzester Zeit erlernen können sollten und einen bestimmten Arbeitplatz im Auge habend, ist die zielsichere Auswahl des Zertifikats leicht möglich, während diese Auswahl im Rahmen der Schulausbildung eine unnötige Firmenprägung zur Folge hat. Firmenwissen wird ohne besonderes Entgegenkommen seitens der Firmen zum Bestandteil von der Öffentlichkeit gezahlter Spezialausbildung geworden.

Ausbildung ist zu teuer geworden, denn sie wird ohne wesentliche Veränderung (Rationalisierung, Standardisierung) seit nunmehr Generationen angewendet, aber mit dem Ballast, dass immer mehr Bevölkerungsschichten zur höheren Bildung streben. War es früher eine höhere Schule für wenige Privilegierte, so ist es jetzt eine Schule für alle geworden. Was sich dabei aber nicht geändert hat, ist der Unterricht. Immer noch erfinden viele Lehrer eines bestimmten Fachgebiets das Rad neu (die allgemeinbildenden Fächer sind hier durch gute Schulbücher deutlich im Vorteil), immer wieder geht didaktisches Wissen mit der Pensionierung von Kolleginnen und Kollegen verloren; es wird verabsäumt, dieses Schätze zu sammeln und weiterzugeben.

Das zertifizierte Wissen zeigt immerhin einen Weg zur Rationalisierung der Vermittlung und Prüfung. Die Standardisierung des Stoffs und der Prüfung macht auch prinzipiell fachfremde Quereinsteiger zu potentiellen Lehrern (oder besser Trainern), die eigentlichen Gurus sitzen in den Zentralen und spielen den großen Bruder. Lehrerarbeitszeit wird nicht mehr nach dem 1+1-Prinzip sondern deutlich ungünstiger entlohnt, Lehrerqualifikation ist auch nicht mehr ein vorrangiges Thema. Lehrerweiterbildung beschränkt sich auf die Vorwegnahme des Zertifikats, vielleicht in halber Zeit. Lehrerarbeit wird durch die zentralisierte Prüfung einfach bewertbar.

Wenn die Massenausbildung von heute eine Vereinheitlichung verlangt, warum zertifizieren wir nicht unseren eigenen Stoff, extrahieren wir die wissenskontinuierlichen Elemente aus den Firmenzertifikaten und integrieren sie in den Unterricht.


Lehrer-zu-Lehrer-Zertifizierung

Was halten Sie daher von einer Lehrer-zu-Lehrer-Zertifizierung? Ein Lehrer beschreibt seinen Stoff in standardisierter Form (nicht der Stoff ist standardisiert, nur die Form), dokumentiert auch die durchgeführten Prüfungen, macht einen Prüfungsvorschlag. In einer Prüfungsphase am Jahresende bescheinigt ein willkürlich zugeteilter Kollege vom Fach diesen Unterricht und vergibt die Noten.


Vorteile


Was tun mit den Zertifikaten?

Die Vor- und Nachteile abwägend, schlage ich folgende Haltung gegenüber den Zertifikaten vor: