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Elisabeth Schiemann (1881–1972):
»Ich komme sofort,
wenn ich nicht ›Heil Hitler‹
zu sagen brauche«

Luise Berthe-Corti und Margarete Maurer1

Elisabeth Schiemann wurde am 15. August 1881 in Fellin/Livland geboren. Sie wählte zuerst den für höhere Töchter der damaligen Zeit üblichen Bildungsgang und absolvierte ein Lehrerinnenseminar, bevor sie sich einem Universitätsstudium der Botanik zuwandte. Ihre fachliche Arbeit wurde – bereits während dieses Studiums – sehr stark durch den Botaniker und Genetiker Erwin Baur (1875–1933) geprägt, bei dem sie 1912 mit einem Thema zur Genetik von Schimmelpilzen, »Über Mutation bei Aspergillus niger«, promovierte. Zusätzlich legte sie 1913 das Staatsexamen für das höhere Lehramt ab. Wahrscheinlich war Schiemann zu dieser Zeit die einzige Frau an Baur’s Institut, später kamen weitere hinzu. Zwei Umzüge des Instituts in den Jahren zwischen 1914 und 1923, zuerst von Berlin nach Potsdam und dann wieder nach Berlin-Dahlem, die bedingt waren durch die politische Lage und Baur's vielseitige wissenschaftliche Aktivitäten, wurden von Schiemann maßgeblich organisiert und geleitet. Dennoch widmete sie sich in dieser Zeit auch ausgedehnter wissenschaftlicher Tätigkeit und habilitierte sich 1924 mit der Arbeit »Zur Genetik des Sommer- und Wintertyps bei Gerste«. Lag der Schwerpunkt ihrer Doktorarbeit noch auf genetischem Gebiet, so war die Ausrichtung dieser Habilitation nun eine experimentell-züchterische. Die Zeit in Berlin-Dahlem (1923–1927) wurde in späteren Interviews von Schiemann’s Schülern als die »Goldenen Jahre« für das Institut und vor allem auch für Schiemann selbst beschrieben. Das Institut wurde international als Zentrum der Genetik und Züchtungsforschung anerkannt. Schiemann hatte als Oberassistentin eine Lebenszeitstelle und umfassende Arbeitsmöglichkeiten. 1927 beschloss die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft2 jedoch, ein neues Institut für Züchtungsforschung in Müncheberg östlich von Berlin einzurichten. Mit der Neugründung kam es zum Zerwürfnis zwischen Baur und Schiemann, der ihr eine bereits zugesagte Stelle im neuen Institut verweigerte. Elisabeth Schiemann verblieb im Institut in Dahlem. Entgegen ihren Hoffnungen wurde sie hier nicht Institutsdirektorin, sondern das Dahlemer Institut wurde von einem jüngeren Kollegen, Hans Kappert3, übernommen.

Schiemann gab ihre Stellung auf und wechselte an das Botanische Museum in Berlin. Dort war sie ohne Bezahlung bis 1943 tätig – »als Gast«, schrieb sie dazu später. Überstehen konnte sie diese Jahre nur aufgrund der finanziellen Unterstützung ihrer Schwester Gertrud. Während dieser Zeit (1931) habilitierte sich Schiemann von der Landwirtschaftlichen Hochschule zur Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin um. In ihrer Antrittsvorlesung sprach sie über »Die Bedeutung der experimentellen Genetik für die Systematische Botanik« und stellte so eine Klammer her zwischen Genetik und der Systematik der Kulturpflanzen. Ihr Ziel war es, eine zusammenhängende Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Kulturpflanzen zu erarbeiten. Auf dieses Gebiet, die Geschichte der Kulturpflanzen, verlagerte Schiemann nun ihren Forschungsschwerpunkt – dies zum einen aufgrund der neuen Einflüsse im Botanischen Garten, aber auch wegen ihrer nunmehr eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten. Sie legte im Botanischen Garten für experimentelle Zwecke und für botanische Demonstrationen eine Schausammlung an, welche leider später, 1943, infolge von Bombenangriffen zerstört wurde. Zu den eingeschränkten Arbeitsbedingungen bis 1943 kam als weitere Erschwernis die Hochschulpolitik der Nationalsozialisten hinzu. Es gehörte zu deren Programm, Frauen von den Hochschulen zu entfernen. Schiemann verhielt sich außerdem keineswegs regimekonform, was ihre Lage noch schwieriger machte. Nach den Berichten ihrer Schüler zufolge verbarg sie in ihrer Wohnung verfolgte Menschen und ermöglichte auch einigen die Ausreise aus Deutschland. Aufgrund der Verordnung zur »Säuberung der Universitäten« wurde Elisabeth Schiemann 1940 die Lehrberechtigung entzogen. Dem folgte eine Zeit aufreibender Kämpfe um die notwendigen Arbeitsmöglichkeiten, insbesondere um die räumlichen und materiellen Voraussetzungen zur Fortführung ihrer experimentellen Untersuchungen. Einen Teil ihrer Arbeiten konnte Schiemann schließlich am KWI für Biologie in Berlin-Dahlem fortsetzen, dessen Direktor, Professor Fritz von Wettstein4, sie sehr hoch schätzte und daher unterstützte5.

1943 wurde aufgrund der schon seit mehreren Jahren bestehenden Bemühungen von Wettsteins in Wien6 ein neues »Kaiser-Wilhelm-Institut für Kulturpflanzenforschung« gegründet, das vor allem die Aufgabe haben sollte, die noch existenten Wild- und Primitivformen der heutigen Kulturpflanzen »in lebendem Zustand« zu sammeln, zu erforschen, zu erhalten und der Pflanzenzüchtung zugänglich zu machen. Über dessen neuen Direktor und vorherigen Mitarbeiter von Wettsteins am KWI für Biologie, Hans Stubbe7, wurde Schiemann die Leitung einer eigenen Abteilung an seinem Wiener Institut angeboten, was sie auf eine für sie interessante »wohlausgerüstete Arbeitsstätte« hoffen ließ. »Ich komme sofort, wenn ich nicht ›Heil Hitler‹ zu sagen brauche«, antwortete sie Stubbe. Sie wurde zum 1. Oktober 1943 von der KWG als wissenschaftliche Mitarbeiterin eingestellt und zur Leiterin der Abteilung für »Geschichte der Kulturpflanzen« des neuen KWI bestellt.

Zwar sollten wegen der weiteren Ereignisse diese direkten Beziehungen Schiemanns zu Wien für sie selbst eher episodenhaft bleiben; wegen eines damit verbundenen, für weibliche Wissenschaftskarrieren interessanten Aspektes und auch, weil dieser Band eine österreichisch-deutsche Koproduktion darstellt, sei hier dennoch mehr dazu gesagt: Von Wettstein hatte ursprünglich, nämlich in seinem Antrag vom 26. März 1939 an den Präsidenten der KWG, nicht Hans Stubbe, sondern Elisabeth Schiemann selbst als Leiterin bzw. als Direktorin des im klimatisch günstigen Österreich neu zu gründenden Instituts vorgesehen: »Nach übereinstimmender Ansicht wäre hierfür Frau Professor Schiemann in Aussicht zu nehmen, die derzeit den besten Überblick über die Wildformen und Primitivformen der Kulturpflanzen besitzt. Sie ist wissenschaftlich und persönlich dafür ausgezeichnet geeignet.«8 Nur wenige Monate später, im September 1939, war Elisabeth Schiemann allerdings nur noch als Leiterin einer von insgesamt drei Abteilungen des neuen Instituts eingeplant, die Institutsleitung sollte ab dann einem der beiden anderen vorgesehenen – männlichen – Abteilungsleiter – eben Hans Stubbe – übertragen werden9.

Schiemann bereitete in Berlin ihren Umzug nach Wien vor und sandte 1944 und 1945 nach und nach ihre zum Teil mehrjährigen Versuchspflanzen zum Auspflanzen nach dort. Zu ihrer geplanten eigenen Übersiedelung nach Österreich kam es allerdings, bedingt durch den Krieg, dann nicht mehr, sie blieb in Berlin. Da das Institut für Kulturpflanzenforschung nach Kriegsende von Stubbe im Harz als Institut der Deutschen Akademie der Wissenschaften wiederaufgebaut10 wurde, schied Schiemann mit ihrer Abteilung aus dem Verband des Instituts aus.

Das Ende des nationalsozialistischen Regimes 1945 brachte für sie dennoch die längst fällige berufliche Anerkennung. Aufgrund ihres vorherigen kompromisslosen Auftretens gegenüber den Nationalsozialisten und aufgrund ihrer hohen internationalen Reputation konnte sie – im Vergleich mit manchen männlichen Biologen sehr schnell – in den Wissenschaftsbetrieb zurückkehren. Bereits im Jahr 1945 war ihr die Lehrbefugnis wieder zuerkannt worden, und 1946 erhielt sie eine Professur mit vollem Lehrauftrag für Genetik und Geschichte der Kulturpflanzen an der Universität Berlin11.

1947 erhielt sie eine Einladung nach Großbritannien, die sie auch nutzte, um die ihr bis dahin nicht zugängliche Literatur der Kriegsjahre einzusehen.

1949 wurde Schiemanns ehemalige Abteilung des KWI als »Institut für Geschichte der Kulturpflanzen« in die neu gegründete Stiftung »Deutsche Forschungshochschule« aufgenommen und nach deren Auflösung 1953 in die Max-Planck-Gesellschaft (MPG)12 eingegliedert, und sie selbst wurde zum wissenschaftlichen Mitglied der MPG berufen. Aus dem Universitätsdienst schied sie in demselben Jahr 1953 – als 68jährige – aus und war von nun an in ihrem Max-Planck-Institut in Berlin tätig. 1956 ging sie – 74-jährig – in den Ruhestand. Es fand sich keine geeignete Nachfolge für sie, und ihr MPI wurde – entsprechend dem Brauch der MPG in solchen Fällen – aufgelöst.

Elisabeth Schiemanns hat sich in ihren wissenschaftlichen Arbeiten hauptsächlich mit drei Bereichen befasst: erstens mit Artbildung und Geschlechtsbestimmung in der Gattung Fragaria (Erdbeere), zweitens mit Abstammung und Artbildung der Getreidearten, die sie an Weizen, Roggen und Gerste untersuchte, und drittens mit Bestimmungen prähistorischer Kulturpflanzen. Die Liste ihrer Ehrungen ist lang. Man wählte sie in die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina13. Sie war Mitglied wichtiger biologischer Fachgesellschaften und erhielt darüber hinaus Ehrendoktortitel und Präsidialwürden. Am 3. Januar 1972 starb Elisabeth Schiemann im Alter von 90 Jahren.